Input Overkill in Frankreich. Zuviel erfahre ich in zu kurzer Zeit, so dass ich mir selbst hinterherhänge. Ich habe schon einen intensiven Montag hinter mir, und habe erst ansatzweise begriffen, was Sonntag passierte.
Bloggen hilft mir, Sachen zu begreifen. Deshalb folgt ausnahmsweise ein Montagspost. Denn besondere Umstände verlangen besondere Maßnahmen. Und so werde ich den fest gesetzten Rhythmus dieses Blog (Di / Do / Wochenende) brechen, weil ich sonst gar nicht mehr hinterherkomme.
Es war ein Sonntag des Reisens. Es war ein Sonntag des Input-Overkills.
Das Programm lautete: Vom Hotel zur Gare du Nord. Dort ein Frühstück kaufen und dies im Nahverkehrszug TER nach Chantilly verzehren. In Chantilly zum Schloss laufen. Dort zur Jeu-de-Paume-Halle in der die Ausstellung der Tres Riches Heures zu finden ist. Von der Ausstellung (eventuell mit Zwischenstopp im Schloss Chantilliy oder im Pferdemuseum) zum Pferde-Spectacle im Dome: Un Jour a Paris. Danach zügig zurück zum Bahnhof und mit der Pariser S-Bahn-Variante RER und Metro zum Pariser Grand Palais, um unseren Zeitslot für die Niki de Saint Phalle / Jean Tinguely / Pontus Hulten-Ausstellung zu erwischen.
Es funktionierte alles. Aber danach zeigten meine Augen ein Tilt – Totalblockade – Geistige Fähigkeiten für heute geschlossen.
Oktober
Hauptsächlich verantwortlich für den Inhalts-Overkill war der Duc de Berry und dessen Bibliothek, die er im 14./15. Jahrhundert erstellen ließ. Der Ausstellungstext beschreibt sie als Sa librairie conjugue avec harmonie savoir et luxe („sie versammelt harmonisch Wissen und Luxus“) und das ist eine Untertreibung.
Vor allem versammelt die Ausstellung viele Stücke der ehemaligen Duc-de-Berry. Ich sah mehrere Dutzend mittelalterlicher Handschriften, von denen jede einzelne Zentrum einer Ausstellung in einem großen Museum sein könnten. Hier aber lagen sie als unterstützendes Beiwerk zusammen und führten auf das Hauptwerk: Die Tres Riches Heures.
Der Duc de Berry ließ die Tres riches heures von den Gebrüdern von Limburg als Stundenbuch anfertigen. Mir scheint, es ist Konsens, dass dieses Buch das prächtigste Werk der mittelalterlichen Buchmalerei ist – und normalerweise gar nicht öffentlich zu sehen, beziehungsweise wenn, dann nur an einer Stelle aufgeschlagen.
Derzeit aber es restauriert. Dazu wurde es auseinandergenommen, und es war das erste mal (und vermutlich auch für alle Zeiten das letzte mal) möglich, alle Monatsblätter auf einmal auszustellen.
Um nicht wieder im Overkill zu landen, werde ich mich erst einmal auf eines beschränken: Oktober.
Oben der Himmel und die Monate mit den Sternzeichen Waage und Skorpion. Darunter der mittelalterliche Louvre in Detailtiefe. Menschen, die durch die Tore hindurch an der Seine spazierngehen. Am Ufer auch spielende Hunde. Auf der Vorderseite des Flusses ein bereits ausgesähtes Feld, mit einer bogenschießenden Vogelscheuche. Dafür ein Sähmann, und ein Reiter, der das Feld eggt. Am Rande, Krähen und Elstern auf der Suche nach Samen.
Es kommt beides zusammen: Eine lebendige, detailreiche Schilderung mittelalterlichen Alltagslebens, wie sie so nur selten zu finden ist. Und eine künstlerisch-technische Brillanz. Je näher wir dem Bild kamen, desto mehr Details offenbarte ist. Es ist uns rein technisch unklar, wie man derart klein derart detailliert malen kann.
Es wäre ein Verlust gewesen, etwas zu übersehen. Und doch waren es viele, viele Blätter und viele Details.

Au cirque
Nach den Manuskripten warteten die Pferde.
Chantilly ist Pferdeland. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Schloss liegt das Hippodrom, auf dem einige der traditionsreichsten Pferderennen Frankreichs ausgetragen werden. Ebenfalls auf dem Weg zum Schloss liegt das andere Schloss, dass sich bei näherer Betrachtung als Stall / Pferdemuseum erweist.
Dieses Pferdeschloss – eine Anlage um zwei große Innenhöfe herum, ist eindrucksvoller als viele echte Schlösser, die ich in meinem Leben sah. Neben dem Pferdemuseum, Le musée vivant du Cheval, fungiert es weiterhin als Stallanlage – der Zugang zum Museum führt durch Pferdeboxen, in den Innenhöfen laufen immer mal wieder Pferde vorbei.
Wir aber wollten die Pferdeshow sehen. Denn wo, wenn nicht hier? Der Dome, eine Anlage, die in ihren Ausmaßen auch so manche moderne Halle in den Schatten stellt, war der Schauplatz. In der Mitte eine Art Zirkusring, wurde, ein Tag im Paris 1900 aufgeführt. Frauen und Männer auf Pferden, in prachtvollen Kostümen, am telefonieren, Federball spielen, Zeitung lesen, ausgehen – alles phantomimisch, nur von Text unterlegt – es wirkte alles französisch-zirkushaft, bis dann das Schild kam Au cirque – also im Zirkus, und denn der Zirkus einen Zirkus simulierte.
So speziell, dass es sicher einmalig bleiben wird. Das Publikum war überraschend erwachsen, die vermutete Übermacht an Pferdemädchen war keineswegs zu beobachten.
Es scheppert im Museum
Nach den Pferden warteten die Maschinen und die Frauen. Das Pariser Centre Pompidou wird renoviert. Ausweichstätte ist der Grand Palais. Die erste große Ausstellung widmet sich drei Figuren, die mit Centre eng verbunden sind: Jean Tinguely, der Maschinendkünstler aus Basel, Niki de Saint Phalle, weltberühmt durch ihre Nanas, und Pontus Hulten – Gründungsdirektor des Centre Pompidous.
Die Ausstellung widmete sich dem Zusammenspiel der drei, stellte Filme und Dokumente aus, die ihre Zusammenarbeit bekundeten. Vor allem aber zeigten sie viele Kunstwerke, die im Zusammenspiel der drei entstanden. Von den ersten Arbeiten mit Hulten als Kurator im Stockholmer Museum für Moderne Kunst, und den Arbeiten, die Tinguelys und de Sant Phalles Ruhm begründeten.
Viele der Kunstmaschinen, die Tinguely herstellte standen herum, wurden bewegend im Film gezeigt. Einige bewegten sich auch, schepperten, klingelten, quietschten und röhrten wie vorgesehen. Dazu de Saint Phalles Figuren, die – jenseits der Nanas – oft weit ins verstörende hinein reichen.
De Saint Phalles vermutliches wichtiges Ausstellungsstück im Museum, existierte fast nicht. Die Ausstellung Hon („Sie“) im Stockholmer Moderna Museet, wurde geplant nach der Ausstellung fast vollständing zerstört. Im Grand Palais waren einige wenige Teile zu sehen, die überlebten, sowie umfangreiches Begleitmaterial.
Die dritte komplett eigenen Welt des Tages. Emotionale Eindrücke, alle drei Veranstaltungen, die uns über Monate tragen werden. Das war erst der Sonntag.