Der Bahnhof in Kehl hat seine besten Zeiten, so diese überhaupt je bestanden, lange hinter sich. Dieser Eindruck verfestigte sich, während ich 25 Minuten lang den Eingang zum Casino Diamond im Bahnhof betrachtete. Denn die Weisheit von Politiker*innen und Wähler*innen brachte uns jetzt neu 25 Minuten Passkontrollen an der riskanten Grenze zwischen Deutschland und Frankreich ein. Die Kontrollen müssen natürlich auch im stehenden Zug durchgeführt werden, wer stört sich schon daran 500 Menschen eine halbe Stunde lang aufzuhalten.
(Jetzt denkt euch wahlweise einen langen Rant oder einen Schmerzensschrei).
Es war ein Urlaubstag des Abfahrens und Ankommens.
Am 30. September um 13 Uhr überquerten wir den Rhein ostwärts. Während ich im Hotel in Stuttgart sitze, schon fast im Zug nach Berlin, reist der Blog von Paris Gare de L’Est bis zum Tübinger Hotel Domicil.
Ostparis nach Westdeutschland
Der Tag – welchen muss ich nachschlagen, zu diesem Zeitpunkt hatte ich jeglichen Überblick über Wochentage verloren – begann mit dem üblichen Frühstück: Kaffee und Pain au chocolat, gekauft bei Bäcker Paul im Bahnhof. Madame bewies ihr sich stetig verbesserndes Französisch, indem sie mit der Verkäuferin über die beiden Angebote parlierte: Wollten wir das Angebot Kaffee+Schokocroissant zum Sonderpreis? Oder lieber drei Schokocroissants für den Preis von zwei und dafür den Kaffee extra zahlen?
Wir endeten bei zwei Croissants, fanden einen Platz in der Bahnhofshalle und sahen dem Treiben zu. Den Damen der SNCF in ihren lila Westen, rennenden Menschen in Stöckelschuhen, und das Jugendorchester, das uns alle halbe Minute neue junge Menschen mit Instrumenten auf dem Rücken vorbeischickte.
Um 10:54h setzte sich unser ICE 9573 in Bewegung, wir saßen in Wagen 28 auf den Plätzen 63 und 65.
Im Zug stellte ich fest: Direkt hinter uns saß ein deutscher Orchesterchefmensch, was nicht nur daran zu merken war, dass er deutsch redete, sondern auch, dass er dies in einer Lautstärke tat, die Französ*innen im Zug nicht an den Tag legen. Außerdem outete er sich als Mansplainer und „IT-Experte“, und so allgemein wurde ich mit zunehmender Dauer der Strecke immer froher, kein Mitglied seines Jugendorchesters zu sein.
Sonst schien unser gesamter Waggon nordamerikanisch besetzt. Ich hörte aus verschiedenen Richtungen amerikanisches Englisch. Am Tisch vor uns saßen vier junge Frauen mit asiatischen Vorfahr*innen und kanadischen Reisepässen, die im Laufe einer dreistündigen Zugfahrt einen erstaunlichen Berg Müll auf ihrem Tisch produzierten. Sie räumten ihn vorbildlich zusammen, bevor wir in Stuttgart ankamen.
Über ingen, ingen und ingen nach ingen.
Stuttgart empfing uns in Dirndl und Lederhose. Erst dachten wir „Aha, Zug aus München – issja Oktoberfest“. Dann stellten wir fest: Der Cannstädter Wasen ist auch gerade, und als junger oder junggebliebener Mensch, geht man dort heutzutage im Karohemd hin.
Noch deutlicher merkten wir die Wasen-Existenz, nachdem wir uns im Bahnhofslabyrinth Stuttgart-21-Baustelle einen Kaffee erkämpft und in den MEX18 eingestiegen waren. Denn dieser fuhr auch nach Stuttgart-Bad-Cannstadt, aus dem Fenster sahen wir Riesenrad und Achterbahn.
Wir fuhren mit der Eisenbahn durch Schwaben, aber nicht mit der schwäbsche Eisebahne.
Denn wie selbst ich weiß, fährt die schwäbsche Eisebahne Schtuegert, Ulm und Biberach
Meckebeure, Durlesbach. Trulla, trulla, trullalla trulla, trulla, trulla la, wir hingegen hatten die Ingen-Parcours: Metzingen, Nürtingen, Plochingen, Reutlingen, Esslingen, Tübingen.
Oder auch nicht bis nach Tübingen. Denn eine anscheinend sehr spontan aufgetauchte Baustelle beendete unsere Fahrt ebenso spontan in Reutlingen.

Neckarbrücke
Die Großbaustelle Bahnhofsplatz Tübingen gehört zu den wenigen glücklich beendeten Baustellen Deutschlands. Wir fanden problemlos das Hotel, das uns dank Eckzimmer viel Platz und einen schicken Panoramablick auf das 1960er-Jahre-Parkhaus gegenüber bescherte.
Wir lenkten einige Schritte über die Neckarbrücke, sahen die Queeren-Protest-Graffitti am Burschenschafts-Haus und gingen zur Alten Aula. Wir wollten den morgigen (= 1. Oktober) Veranstaltungsort schon mal in Augenschein nehmen. Ortstypisch über Berg- und Tal gelangen wir zur anderen Neckarbrücke, sahen das Denkmal für Ottilie Wildermuth („gestiftet von den Deutschen Frauen“) und gelangten über die Neckarinsel bis zum griechischen Restaurant Bavaria.
Auf dem Weg erfreuten wir uns am Wasserspielplatz, dessen Bedienung allen Kindern sofort ersichtlich war, bei dem alle Erwachsenen aber ziemlich ins rotieren kamen, bis sie herausfanden, welche Kurbel welches Wasser in Bewegung setzt.
Dort ein herzliches Willkommen, mit Kennenlernen spannender Menschen, dem Austausch diverser Reiseerfahrungen von Berlin nach Tübingen (Umweg über Paris gewinnt) und einer wiederholten Einladung nach Perleberg in der Prignitz. Es gab Gyros.