24-07-27 Valga (Tallinn – Riga)

Währenddessen in Berlin: Kaum sind wir mal ein paar Tage abwesend, passiert an der Dachbodenbaustelle scheinbar mehr als im kompletten Jahr zuvor. Wir sind gespannt.

Während in Berlin gebaut wird, sind wir in Riga im Hotel angekommen. Obwohl Riga nur 170.000 Einwohner mehr besitzt als Tallinn, fühlt es sich mindestens viermal so groß an.

Um dorthin zu gelangen nutzten wir:

  • Zwei Fernfähren
  • Vier Fernzüge (Neu: elron 10/330 „Baltic Express“ Tallinn -> Valga und vivi ??? Valga -> Riga)
  • Eine S-Bahn, eine U-Bahn, acht Trams, zwei Linienbusse, zwei Shuttlebusse, zwei Hopserfähren.

Totentanz

In Tallinn war es soweit. Sei es die Umstellung auf das Reiseleben; sei es etwas schlecht Gegessenes; – sei es ein Virus, der uns gestreift hatte. Wir beide fühlten uns körperlich begrenzt. Das Handy wies noch wundersame 10.000 Schritte am Tag auf. Aber diese verbrachten wir in der Nähe von Bahnhof, Fährterminal und historischer Altstadt.

Das Go Hotel Shnelli ist Teil des Bahnhofskomplexes. Es ist unschlagbar, wenn man an jenem Bahnhof einen Zug um 7:15h erreichen will. Einmal aus der Tür treten, das Gebäude halb umrunden und man steht auf dem Gleis. Unter anderen Umständen würde ich nochmal nach einem anderen Hotel suchen.

Die Altstadt – wäre ich Miniaturbahnmodellhersteller und hätte diese Altstadt designt. Ich könnte wochenlang vor Stolz nicht schlafen. Es stimmt einfach alles.

Selbst das gelegentlich verfallene Haus oder die rückwärtige Straße mit Mülltonnen sind vorhanden, damit es nicht zu disneyhaft wirkt. Es ist perfekt und in einem süßen Miniaturmaßstab. Es mag an meiner geistigen Verfasstheit gelegen haben – fasst schon unwirklich.

Selbst die gelegentlich auftauchenden Botschaftsgebäude wirkten schon wie ein Sprung in der Matrix, ein unabsichtliches Durchscheinen der Räderwerks, dass die Maschine vor unseren Augen am Laufen hält.

Unser Höhepunkt: Niguliste kirik – die ehemalige Nikolaikirche – gotische Prachtkirche deutscher Kaufleute, die seit 1984 als Museum für mittelalterliche Kirchenkunst dient. Museale Aufbereitung und Gebäudetechnik sehen nach 2020ff. aus.

Die Kunst schön präsentiert und jedes einzelne Stück eine Reise wert. Wir verbrachten die längste Zeit vor dem Tallinner Totentanz. Ein ursprüngliches 30 Meter langes, heute noch 7 Meter erhalten, Gemälde aus dem Mittelalter, dass den Tanz des Todes mit den Menschen zeigt. Eine zeitweise populäre Symbolik: egal, wer Du bist, ob Papst, Kaiser oder Knecht, am Ende wird der Tod Dich holen und ihr seid alle gleich.

Der Tallinner, eng angelehnt an den verlorenen Lübecker Totentanz, zeigt einen Tod in glänzender Laune mit wild ausladenden Tanzbewegungen, während Papst, Kaiser und Edelfrauen doch arg gequält schauen. Darunter auf (Altmittel-)Plattdeutsch die Erläuterung:

To dussem dantse rope ik al gemene
Pawes keiser unde alle creaturen
Arm ryke groet unde kleine
Tredet vort went iu en helpet nen truren

Estland blieb uns verschlossen. Sei es die hermetische Sprache (außer bei Glückstreffen wie Politsei, Güümnasium oder Disain), die abgeschlossene Miniaturwunderlandstadt oder die Tatsache, dass selbst der Zug direkt hinter dem Bahnhof in den Wald fuhr und nie wieder daraus hervorkam – Estland, who are you?

Erdbeerlimo mit Grenzblick

Man stelle sich vor, es gibt einen Zugverbindung am Tag zwischen Berlin und Hamburg. Diese besteht darin, dass man drei Stunden eine Regionalbahn von Berlin nach Salzwedel nimmt. Dann vier Stunden in Salzwedel wartet. Und dann wieder drei Stunden mit einer Regionalbahn von Salzwedel nach Hamburg fährt.

Dieses ist die Bahn-Situation zwischen der estnischen Hauptstadt Tallinn und und der lettischen Haupstadt Riga. Entfernung per Luftlinie: keine 300 Kilometer, Reisestadt: 10,5 Stunden.

Eine Katastrophe für die Infrastruktur – und ein Grund warum jeder normale Mensch lieber den Reisebus nimmt – aber für den abenteuerbereiten Urlauber natürlich ein Paradies.

Es gibt den Zug von Tallinn nach Valga – ein neues Modell. Ich könnte nicht sagen, je in einem Zug so gut gesessen zu haben. Dann Valga. Dann der Zug sowjetischer Bauart, behutsam modernisiert, der lettischen Eisenbahn.

Valga hat 14.000 Einwohner. Es ist eine Grenzstadt (Stadtzentrum und Bahnhof liegen im estnischen Valga, ein bedeutender Teil des Städtchens im lettischen Valka). Der prachtvolle Bahnhof – so(!) soll ein Bahnhof aussehen – büßte etwas an subjektiver Pracht ein, nachdem wir lasen, dass er 1949 im stalinistischen Klassizismus von deutschen Kriegsgefangenen erreichtet wurde.

Das eigentliche Stadtzentrum liegt einen 20-minütigen Fußmarsch vom Bahnhof entfernt. Es enthält historische Häuser, Holzhäuser; kurz erwarteten wir, dass gleich schießende Cowboys aus den Gebäuden heraustreten würden. So sehr sah es nach Westernstadt aus.

Dahinter diverse große Einkaufszentren die direkt neben dem Grenzpfahl liegen. Eines verkaufte uns Erdbeerlimonade. Zurück wandelten wir durch einige neu angelegte schöne Parks und Promenaden, die zum Flanieren einladen.

Es waren sehr schöne vier Stunden.

Bahnhofs-Highlight: Die Klofrau, die an einer großen analogen Registrierkasse saß, so wie damals 1982 im Supermarkt.

Personen im Gleis

Der Zug nach Riga wurde in Valga nicht angekündigt. Es handelt sich um einen Zug der lettischen Bahn in einem estnischen Bahnhof. Diese werden anscheinend aus Prinzip nicht angezeigt. Oder weil man den Zug nicht in das estnische System einpflegen kann.

Der Zug folgte man Modell analoge Registrierkasse. Er sah so aus wie Züge in meiner Kindheit aussahen: Eine echte Lokomotive zog Personenwaggons, die durch mehrfache Türen voneinander getrennt waren. Der Einstieg erforderte nahezu bergsteigerische Fähigkeiten – selbst vom Bahnsteig aus.

Wobei nicht alle lettischen Bahnhöfe Bahnsteige haben. Manchmal stehen auch Leute auf der Wiese. Außerhalb Rigas führen die Wege zum Zug auch immer direkt über das Gleis – keine Unterführungen, keine Überführungen, keine Schranken, einfach geradeaus. Die Leute gingen auch einfach über das Gleis. An einem Bahnsteig sahen wir einen Trampelpfad zwischen den Gleisen. Spannend!

Auch scheint das Konzept des beschrankten Bahnübergangs dem ländlichen Lettland fremd zu sein. Wild tutend kreuzten wir in hohen Tempo Landstraßen, die einzig mit blinkenden Andreaskreuzen gesichtert waren.

Nicht nur eine Reise nach Riga, sondern auch eine Reise in die Vergangenheit.

Die Einfahrt nach Riga: Großstadt. Direkt vor dem Hauptbahnhof ein gigantischer Güterbahnhof mit der längsten Fußgängerüberquerung, die ich je sah. Langsam verlassen wir gefühlt den Ostseeraum und nähern uns Ostmitteleuropa.

Totentanz und Jakobsbücher

Madame las im Zug Excellent Women und kann dies sehr empfehlen.

Ich las Tuvia Tenenboms Gott spricht Jiddisch zu Ende – eigenwillig, gewöhnungsbedürftig, aber mit großem Gewinn gelesen.

Danach angefangen Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. (übersetzt von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein). Nach ungefähr fünf Seiten fand ich jeden Literaturnobelpreis gerechtfertigt. Jedes habe ich nur das Problem, dass mich jedes verpasste Wort grämen würde. Ich lese also konzentriert, blättere des Öfteren zurück und lege reichlich Pausen ein, wenn die Konzentration nachlässt. In diesem Tempo brauche ich für den Wälzer ein paar Jahren.

Mehr zum Tallinner (und zum Lübecker) Totentanz: The Dance of Death in Tallinn.

4 Gedanken zu „24-07-27 Valga (Tallinn – Riga)“

  1. Wünsche weiterhin schönen Urlaub! Die genannten Städte sind wunderbar. Und selbst als Kreuzfahrer hatten wir bisher immer die Chance, die geführten Touren nicht zu buchen und zu Fuß viel zu erkunden. In Riga empfehle ich sehr (sehr sehr) die lettische Nationalbibliothek. Man kann sich unten eine Karte geben lassen und dann von ganz oben gucken. Und generell ist die sehr schön (ich hab meinen Bericht noch nicht fertig).

    1. Knapp verpasst.. ich habe die Antwort gesehen als wir gerade auf dem Weg Richtung Zug waren. Dabei hatten wir uns vorher schon gefragt, ob man in die Bibliothek wohl hineinkommt, waren dem aber nicht nachgegangen. Naja, nächstes Mal. Nächstes Mal kommt bestimmt.

  2. Danke für den schönen Reisebericht!
    Schon in der Zugpost habe ich einiges über das Reisen mit dem Zug durch das Baltikum gelesen und bekomme große Lust, dass auch mal auszuprobieren.

    1. Ich würde es jederzeit wieder machen. Wenn auch vielleicht nicht im Hochsommer (naja, war uns vorher bewusst aber ging nicht anders) und mit etwas mehr Zeit in den einzelnen Städten (war uns vorher bewusst, aber ging nicht anders..) Es gibt Gründe zur Wiederholung

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