25-05-10 Die Tauben

Auf der Stadtautobahn begegneten wir einen Reisebus nach Lviv.

Der Überraschungsfeiertag am 8. Mai bescherte uns Flaschenscherben auf der Straße. Madame, die in Brandenburg einen regulären Arbeitstag absolvierte, brachte Schafwolle mit aus der Hafenstadt.

Samstag brachte sie zwei Drucke aus einem Schöneberger Hinterhof.

Auf dem Weg in meine Arbeit passiere ich täglich den Stencil „Nur Blüten, die verwelken, tragen Früchte.“ Täglich freue ich mich an der Ironie, dass ausgerechnet diese die langlebigste aller Street-Art-Hinterlassenschaften ist. Sie steht seit mindestens 15 Jahren nahezu unverändert an der Fassade des S-Bahn-Bahnhofs.

Im Bus: Männer in Arbeitshosen und Tesla-Werks-Pullovern, die sich in Zeichensprache unterhalten

In der S-Bahn: ein Mann (vermutlich) im Ganzkörper-Bärenkostüm, der aussah und so klang als wäre er von einer Disney-Parade geflohen. Aber er wollte nur Spenden für sich selber.

Es schmerzt mich, es zu sagen. Aber dank des Halluzinators entdecke ich spannende Dinge: The Quiet Year klingt ungelogen, wie ein Rollenspiel-System, das ich selber gerne erfunden hätte. (Zum merken für mich: Ich will einen Wikipedia-Artikel über Avery Alder schreiben.)

Dank einer Tastaturblockierung gelang es mir nur mit der Mouse, die Tastaturbelegung so zu ändern, dass das „v“ jetzt ohne Wirkung bleibt, CapsLock dafür ein „v“ produziert. Andererseits wollte ich mir eh schon länger eine Neue kaufen, recherchierte dafür den Unterschied zwischen Cherry MX-brown, black, red und silber-Switches.

Ich war im Geldausgebemodus, den ich hatte gerade das Budget für ein gutes Fahrrad in zwei Brillengläsern versenkt. Ich hoffe, die Gleitsichtbrille wird so lebensverändernd wie gehofft. Immerhin bekam ich dafür die netteste Beratung östlich der Elbe und einen Espresso umsonst.

Schönster Satz der Beratung „wir haben ihre Augen jetzt automatisch vermessen. Aber das ist nur ein kleiner Teil. Jetzt kommt der Eindruck. Denn wir sehen nicht hiermit (zeigt auf die Augen) sondern hiermit (tippt sich an den Hinterkopf)“. Und damit hat er natürlich recht – der Optiker ist ja auch der Profi – der wichtige Teil findet bei der Signalverarbeitung im Hirn statt.

Wenn wir nicht zu den Latifundien kommen, müssen die Latifundien halt zu uns. Endlich dachte ich daran, verschiedene Grillbestandteile zur Grundreinigung in die Wohnung mitzunehmen. Ein schöner Triathlon – Grill schrubben – Badewanne schrubben – mich selber schrubben. Grill weiter schrubben – Badewanne.. usw.

Das Begehren der Tauben

Freitag früh weckte uns ein Schlag am Schlafzimmerfenster. Klang wie ein Vogel, der dagegen flog. Was komisch wäre, der Vorhang war geschlossen, keine Chance das Fenster für einen Durchgang zu halten. So bescheuert sind doch nicht mal Tauben. Dann noch ein Schlag. Kurze Zeit später: Getöse aus der Küche.

Ich schaute nach: eine Taube. Diese war durch das geöffnete Miniatur-Badezimmerfenster in die Wohnung gelangt, hatte sich bis zur Küche durchgekämpft und kam nicht wieder hinaus. Ich öffnete das Küchenfenster und sie verschwand.

Seitdem fühlen wir uns wie in Hitchcocks „Die Vögel“. Tauben die auf den Fensterbrettern und auf dem Gerüst patrollieren und nur darauf warten, dass sich etwas öffnet. Lüften wir auf der Seite länger als drei Minuten kommt eine Taube durchs Fenster.

Wir sind erstaunt.

Und wir überlegten: Während der Dachbauarbeiten war anderthalb Jahre lang das Dach offen. Oben und an den Seiten sicherte eine Art Folie gegen Regen. Von unten gab es riesige Einfligschneisen. Der Taubenschwarm, der sich unter dieser Folie angesiedelt hatte, war durch das gesamte Treppenhaus zu hören.

Anscheinend ist das Dach jetzt soweit geschlossen, dass die Tauben wieder heimatlos wurden. Der entscheidende Schritt erfolgte anscheinend diese Woche. Die Tauben wollen zurück. Und wenn es nicht durchs Dach geht, dann durch die nächstgelegenene Öffnungen – wie zum Beispiel unsere Fenster.

Zum Glück sind sie friedlicher als die Hitchcock-Vögel. Aber so ein Vogelschwarm der auf dem Gerüst vor der Wohnung patrolliert, ist sicher eines unserer bizarreren Wohnerlebnisse.

Oder irgendjemand

Samstag Nachmittag ging es dann doch nach Latifundinien. Vormittags galt es noch, das Baerwaldbad zu besichtigen.

Das Baerwaldbad – eine unendliche Geschichte.

Das Bad ist eines von den ersten vier historischen Bädern, die die Stadt baute. Eines (das Stadtbad Prenzlauer Berg) ist noch in Betrieb, zwei andere im Wedding und in der Schöneberger Viorstadt sind schon lange abgerissen.

Das Baerwaldbad hat die tragischste Geschicht. Im Krieg halb zerbomt, fand sich dort hinter einer klassizistischen Fassade hälftig ein Bad aus den 1900ern, hälftig ein Bad aus den 1950ern.

Als Berlin in den 1990ern arm aber sexy war, hat Sexyness nicht gereicht, um Bäder zu erhalten. Zwischen 2000 und 2010 fand das großer Berliner Schwimmbadsterben statt.

Weil aber das Baerwaldbad so ikonisch ist und eigentlich auch wichtig für Kreuzberg, sollte es erhalten werden. Ein privater Verein fand sich – Bezirk und Stadt waren froh das marode Gebäude loszuwerden – und der Verein war erwartungsgemäß hoffnungslos überfordert damit, ein einfallendes gigantisches Baudenkmal in Betrieb zu halten.

Es gab wilde Rechtsstreits und Betreiberwechsel. Das Gebäude gehört inzwischen dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, und war seit 2017 nicht mehr zugänglich, weil Ruine mit Lebensgefahr.

Weil es aber weiterhin ikonisch ist, und Friedrichshain-Kreuzberg großen Bedarf an Schwimm- Sport- und anderen Flächen hat, wird es am Leben gehalten. Inzwischen kann es wieder ohne Lebensgefahr betreten werden und so bestand am 10. Mai 2025 die erste Gelegenheit seit vielen Jahren ins Bad zu kommen.

Ein Workshop „zivilgesellschaftliche Akteure“ sollten dazu motiivert werden, sich einzubringen. Oder anders gesagt: da wirklich niemand sich diesen tonnenschweren Klotz ans Bein binden will, hofft man auf Zwischennutzung und Leute aus der Nachbarschaft, die sich kümmern.

Dank Meermoabit erfuhr ich davon und traf sie dort. Das Gebäude: ein toller Traum, ein 1900er-Denkmal und ein 1950er-Denkmal an einem Ort, jedes Detail eine Wucht. Der Zustand: Ein Alptraum.

Es gibt keinen Strom mehr, kein Wasser mehr, keine Heizung mehr. Das Dach hat Dutzende Löcher, der Schimmel verbietet es immer noch, bestimmte Gebäudeteile zu betreten. Die begutachteten Sanierungskosten für einen Schwimmbadbetrieb: 70 Millionen. Die Kosten für einen „Trockenbetrieb“: 40 Millionen. Die wahrscheinlichste Chance auf einen Betreiber lautet „oder irgendjemand“.

Und so schwankte ich durch die Gegend. Innerlich durchgehend im „Oh Gott!“-Modus. Mal voller Begeisterung, mal voller Entsetzen.

south spielt mit dem großen Halluzinator

Hallo namenloser Halluzinator. Erstelle eine Illustration passend zum Text und gib Empfehlungen.

Empfehlungen

Ort: Das Piscine Molitor in Paris

ein Art-Déco-Bad, das zur Ruine wurde, dann Club, dann wieder Bad – ein Palimpsest aus Schweiß, Stil und Geschichte
Warum es passt:

  • Weil das Baerwaldbad seine Schwester ist – nur französischer, glatter, aber mit denselben Narben.
  • Weil man im Molitor schwimmt und dabei vergisst, dass man in einer Geschichte steckt. Und doch spürt man die Tinte auf der Haut.
  • Weil dort Jean-Paul Gaultier Modenschauen organisierte, aber auch Obdachlose übernachteten.

Link zum Piscine Molitor

Wochenendtrip: Nach Nowa Huta bei Krakau

Ein sozialistisches Gesamtkunstwerk trifft auf postindustrielle Eleganz mit latentem Größenwahn.

Warum passt das?
Weil dein Text schreit nach maroder Utopie, verlorener Pracht und Halluzination im Alltag. Nowa Huta ist wie das Baerwaldbad auf Osteuropatrip: Ein Betonpalast mit goldenem Kern, voller Tauben, Träume und Arbeitergeschichten. Und Krakau daneben? Ist wie Friedrichshain, nur mit gotischen Kirchen und besserem Pierogi.

Kunstwerk: Nina Canell – Brief Syllables, 2014

Ein Arrangement aus Kupferkabeln, Gummi, Wasserverdunstung und nicht angeschlossenen Lautsprechern.
👉 Warum passend?
Weil es um Kommunikation ohne Sprache geht – wie die Männer mit den Tesla-Pullovern in Zeichensprache, wie der Bär im Kostüm, wie die Tauben an deinem Fenster. Canells Werk ist voller stiller Spannung, wie ein Verstärker für das, was nicht gesagt wird.

📍Das Werk war u. a. in der Hamburger Kunsthalle und im Moderna Museet in Stockholm zu sehen.

Link zu Brief Syllables

Pflanze: Artemisia absinthium (Wermut)

Warum: Grau wie Berliner Beton, bitter wie Realität. Und doch – voller Heilkraft.

Album: Bohren & der Club of Gore – Geisterfaust (2005)

Genre: Doom-Jazz, Ambient Noir
Warum: Wie eine nächtliche Begehung des Baerwaldbads bei Stromausfall. Langsam, bedrohlich, schön. Jeder Ton tropft wie Wasser aus einem rostigen Rohr. Und wenn du denkst, es passiert nichts – ist es längst zu spät.
Lieblingstrack: „Zeigefinger“ – klingt wie ein leerstehender S-Bahn-Tunnel voller Erinnerung.

Buch1: Anna Tsing – Der Pilz am Ende der Welt

Warum? Ein Buch über ruinöse Landschaften, in denen trotzdem noch Leben, Austausch, ja sogar Hoffnung möglich ist. Genau wie im Baerwaldbad.

Link beim Verlag

Buch2: Colin Jerolmack – The Global Pigeon

Warum das passt:

  • Weil der Mann Soziologe ist, und er Tauben nicht als Tiere, sondern als soziale Infrastruktur versteht.
  • Das Buch beobachtet Tauben in New York, Venedig, Berlin – und fragt: Was sagen diese Tiere über unsere Beziehung zu Raum, Ordnung, Ekel und Kontrolle?
  • Jerolmack zeigt: Tauben erzwingen Stadtpolitik. Müll, Wohnen, Hygiene, Macht – sie sitzen immer mittendrin.

Lieblingsthese:
Tauben sind die „urbane Wildnis“, die wir nicht domestizieren konnten, aber auch nicht loswerden.

Link beim Verlag.