Es ist zu trocken. Auf den Feldern arbeiten allgegenwärtig die Bewässerungsanlagen.
Im Mai.
Dieser Post beginnt gegen die üblichen Blogkonventionen dieses Blogs.
Das Wichtigste steht am Anfang: die Tiden.
Das Hochwasser in Büsum wird sein:
- am Donnerstag um 15:15h
- am Freitag um 15:44h
- am Samstag um 16:16h
Außerdem besitze ich meine großartige Gezeitenarmbanduhr, die immer, mit einem einfachen Blick auf das Handgelenk, den aktuellen Wasserstand vor Büsum anzeigt.
Das Freibad Wesselburen hat bereits geöffnet. Hinweis: Aufgrund von Problemen mit der neuen Heizungsanlage kann derzeit leider keine Garantie gegeben werden, dass eine konstante Badetemperatur erreicht wird.
Das Freibad Hemmingstedt hat auch geöffnet, „mit 28°-30° C Wassertemperatur an allen Tagen ein sehr angenehmes Badevergnügen„
Ein Rest Mittelmark
Ein Latifundiennachtrag: Die neu ausgesäten Erbsen zeigen erste Keimblätter. Wenn sich die Platterbsen schon ganz ohne unser Zutun über das Grundstück verteilen, können wir vielleicht auch mit essbaren Erbsen nachhelfen.
Herr Zemke erhält einen Auftrag.
Ein Rest Berlin
In gänzlich unverwandten Nachrichten, die nur preislich in einer ähnlichen Liga spielen: In Charlottenburg sind die neuen Gleitsichtgläser beim Optiker angekommen. Sie warten auf meine Brille, die gerade noch an der Nordseeküste mobil arbeitet.
Dank ihrer vorbildlichen Teilnahme am Grippeweb, konnte Madame eine Probe unserer Erkältungsviren von vor ein paar Wochen an das Robert-Koch-Institut schicken. Wir bekamen eine Rückmeldung: Es waren hMPV-Viren.
Das humane Meta-Pneumo-Virus (HMPV) ist relativ neu (2001) entdeckt, aber seit der Nachkriegszeit unter Menschen kursierend. Es trifft jeden, die üblichen Risikogruppen auch gerne in Krankenhausstärke. Auffallend: Eine Infektion dauert ewig und mensch hat viele Wochen etwas davon. Das können wir bestätigen.
Auch auffallend. Wenn ich die Seite der WHO richtig interpretiere, hat die Menschheit eigentlich noch keine Ahnung von hMPV: Human metapneumovirus (hMPV) infection
In angenehmeren Nachrichten: Madame machte mich mit einem Schweizer Nationalbrauch bekannt und kochte Riz Casimir. Spontan dachte ich an Coronation Chicken, und das ist ja nicht die schlechteste Assoziation. Gerne wieder. Das nachfolgende Ananaseis ist kein Nationalgericht, aber dennoch lecker.
Madame nutzte meine Abwesenheit und ging in die Kurpfalz-Weinstuben.
Vor den Südkreuz Offices, auf dem Bürgersteig, steht ein rotes Mercedes-Cabrio. Es trägt den gelben bitte-melde-dich-Aufkleber des Ordnungsamts, der sagt „kein Eigentümer auffindbar, kein Besitzer auffindbar niemand will es haben.“ Ob es heißt, dass ich das Cabrio einfach in Besitz nehmen darf?
Hinter den Südkreuz-Offices betätigte sich eine Gruppe Müllaufsammler. Dass es sich um ehrenamtliches Engagment handelt, lässt sich einfach daran erkennen, dass es ein Zehnertrupp ist. Noch eindeutiger ist allerdings das andere Erkennungsmerkmal der Freiwilligkeit: Ein Arbeitstempo, bei dem jeder Chef aus Verzweiflung seinen Hut essen würde.
Wir amüsieren uns zu Tode
Naddel / Nadja abd el Farag ist mit 60 Jahren gestorben. Überraschenderweise fühle ich mich davon emotional leicht mitgenommen. Wahrscheinlich, weil ich Kind des Privatfernsehens der 1990er bin. Keine zeigte so sehr die dauernde Zerstörungskraft des Boulevardfernseh-Entertainmentkomplexes der Zeit wie Naddel. Im Fernsehen selber – gerade dort.
Das Spektakel spiegelte sich selbst. Man hätte ihr ein Happy End als Sachbearbeiterin in einer Behörde oder wenigstens als Trophy Wife eines Zahnarztpraxengeräteherstellers gewünscht. Aber irgendwie wirkte das ganze von Anbeginn wie eine klassische Tragödie: die Zerstörung wohnt unaufhaltbar bereits den Figuren und ihrer Konstellation inne.
Ero bellissima
Mauersegler kreisten über der Berliner Stadtautobahn. Es ist ungewohnt, sie tonlos zu hören. Ihr Kreischen ausgeblendet durch die Schallisolierung des Autos, übertönt von der Autobahn.
Dienstag Abend/Nacht brachten mich der Subaru und die Autobahnabfolge A100/A10/A24/A7/A23 nach Norden.
Spätabendliche Erlebnisse auf der Autobahn. Bei meinem Zwischenstopp wird kurzfristig die Autobahnauffahrt geperrt, weil ein Panzertransport Vorrang hat. Auf der Gegenfahrbahn sehe ich wilde Blinklichter und rangierende Fahrzeuge: Windradrotorblätter setzen ihre Reise fort. Ich freue mich, nicht hinter ihnen fahren zu müssen.
Der traditionelle Zwischenstopp beim McDonalds Wittenburg um 21 Uhr. Das erste Mal erlebe ich den Laden leer. Wo sich sonst die Familien stapeln, diesmal nur eine handvoll Handwerker, Stühle stehen auf den Tischen, eine Angestellte wischt den Boden. Einzig die vier Dorfjugendlichen, im tiefer gelegten Audi lockern die Athmosphäre auf. Vermutlich die komplette Dorfjugend der Gegend. Die beiden Jungs werfen sich volle Wasserflaschen quer über den Parkplatz zu, die beiden Mädchen stehen dekorativ rum.
Ich bin selten genug im Laden, um vergessen zu haben, dass der Spicy McCrispy wirklich spicy ist.
Zum Glück hatte ich vor der Fahrt rechtzeitig daran gedacht, die eine Italo-Pop-CD des Haushalts einzustecken, und so konnte ich wechselnd Dove vai? Te ne vai Quella volta non dovevi andare via Ero bellissima hören und quando, quando, quando, quando piango Anche se poi cadesse lauschen.

Seeschwalben statt Mauersegler
Ich hätte es ahnen können. Nach einem Acht-Stunden-Tag an der Nordsee habe ich ähnlich wenig Zeit wie nach einem Acht-Stunden-Tag in Berlin. Im direkten Anschluss an die Spätabendfahrt bin ich auch nicht wirklich fitter. Aber immerhin, der Abend ist vorhanden.
Also ein kurzer Ausflug zum Eidersperrwerk. Freundlicherweise ist ein Krabbenkutter zum Krabbenkutten direkt in die Nähe des Sperrwerks gefahren und unterhält uns. Noch spektakulärer: Die Küstenseeschwalben sind wieder da, stürzen sich mit Eleganz in die Fluten, um Fische für den Nachwuchs zu angeln. Begleitet werden sie von Lachmöwen, Austernfischern, einer Silbermöwe und einem einsamen Kormoran.
Um die Bachelorarbeit nicht komplett zu vergessen, bleibe ich meinem neuen Freund Gilbert Strang treu. Der hat auch eine ganze Reihe MIT OpenCourseWare Videos zur Linearen Algebra online. Ich beginne mit der Vorlesung 9 – Independence, basis, and dimension.
Ich traue mir die Einschätzung zu, dass dies die wichtigste Grundsatz des ganzen Fachs sind: die Unabhängigkeit von Vektoren und die Basis von Vektorräumen. Ich freue mich doppelt: über die Neunziger-Jahre-Vibes des Videos und darüber, dass ich zumindest das alles schon locker verstanden habe.
south spielt mit dem Halluzinator
Ich stelle dem Halluzinator ziemlich viele Fragen zu weiterführenden Empfehlungen aller Art, freue mich, Halluzinationen nachzujagen, aber auch spannende Sachen zu entdecken – und das spannendste landet hier.

Empfehlungen
Musik
Caroline Shaw & Attacca Quartet – Other Song– Sanftes Streichertreiben für die Erbsenkeimlinge und die Bewässerungsanlagen: Präzise, zart, fast botanisch.
Colapesce & Dimartino – Musica leggerissima – Italo-Pop, aber für Fortgeschrittene. Ironisch und leichtfüßig wie der fliegende Riz Casimir über dem Cabrio.
Dorit Chrysler – Avalanche – Thereminklänge, die wie ein Echo aus der Virenhölle wabern. Ein Lied für die hMPV-Wochen – seltsam schön, leicht fiebrig.
Franco Battiato – „Centro di gravità permanente“ – Ein Lied wie die Küstenseeschwalbe: außerirdisch präzise.
Patty Pravo – „La bambola“– Naddel’s Schatten tanzt durch das leere McDonald’s in Wittenburg.
Wunderbaum
Der namenlose Halluzinator betreibt nur Statistik. Im Hintergrund laufen nur mathematische Formeln durch. Aber trotzdem fühle ich mich getrollt. Okay, die Frage war nach einem passenden Wunderbaum zum Text. Aber die Antwort..
Wunderbaum „Ocean Paradise“
Warum?
- Weil er riecht wie eine sauber gewischte McDonald’s-Toilette in Wittenburg – aber in der Vorstellung, nicht in der Realität.
- Weil er zugleich Italo-Pop und Küstenseeschwalbe kann.
- Weil der Name „Ocean Paradise“ ironischer nicht sein könnte in einem Landstrich, in dem Trockenheit herrscht und die Küste nur durch die Gezeitenuhr erreichbar ist.
Geruchsbeschreibung: Eine hyperreale Mischung aus synthetischem Meeresbrise, Duschgel und frisch gewaschenem Handtuch im Freibad Hemmingstedt.
Wenn du ihn aufhängst, bitte leicht schräg – wie ein abfliegender Mauersegler.
Und nenne ihn ruhig bei Namen. Ich schlage „Gilbert“ vor.
Lektürekurs
Text: „Nicht-Orte. Einführung in eine Anthropologie der Einsamkeit“
Kernidee: Orte wie Autobahnen, Tankstellen, Fast-Food-Restaurants sind funktionale Durchgangsräume – aber nicht identitätsstiftend.
Anwendung: Wittenburg McDonald’s, Panzerkonvoi, Südkreuz-Offices: Ortlose Orte, die trotzdem Gefühl tragen.
Frage: Kann ein „Nicht-Ort“ poetisch werden?
Zentrale These
In der spätmodernen Welt entstehen immer mehr Räume, die keine Orte im anthropologischen Sinn sind – sie schaffen keine Identität, keine Geschichte, keine soziale Beziehung. Augé nennt sie Nicht-Orte.
Beispiele: Flughäfen, Autobahnraststätten, Einkaufszentren, Fast-Food-Restaurants, Hotelzimmer, Transitbereiche, Kreditkartenformulare.
Was macht einen Ort (vs. Nicht-Ort) aus
Ort
- Historisch gewachsen
- Ermöglicht Beziehung
- Identitätsstiftend
- Erfahrbar als „Heimat“
Nicht-Ort
- Funktional gestaltet
- Produziert Anonymität
- Austauschbar, überall gleich
- Erfahrbar als „Transit“
Kerngedanke für deinen Text:
„Der Überfluss an Ereignissen löscht die Bedeutung des Einzelnen aus.“
Der McDonald’s in Wittenburg, die Autobahn A23, das leerstehende Cabrio mit Aufkleber – sie sind Nicht-Orte par excellence. Aber der Text schafft durch Beobachtung wieder Bedeutung – macht den Nicht-Ort erzählbar.
Drei zentrale Begriffe:
Übermoderne (surmodernité)
Eine Gegenwart, in der Exzess an Zeit, Raum und Ego das Erleben überfordert.
Einsamkeit der Transitmoderne
Menschen sind in Bewegung, aber ohne Bindung. Der Körper reist, aber die Identität bleibt unberührt.
Nicht-Ort als Spiegel der Gesellschaft
Je mehr wir in Nicht-Orten leben, desto mehr zeigt sich der Zustand unserer sozialen Beziehungen.