25-10-04 Von Wenderomanen und dem Wesen der Salatschüssel (Tübingen)

Die Bachelorarbeit ist bestanden. Diese Nachricht erreichte mich im Tübinger Hotelzimmer, kurz bevor wir uns zum Aufbruch zur Uni Tübingen trafen.

Damit darf ich mich noch nicht Bachelor of Science nennen – zwei Klausurergebnisse fehlen noch, und erst dann kann ich das Zeugnis beantragen, das zum Bachelor-führen berechtigt. Aber, um die weichere Formulierung im Über-mich-Abschnitt dieser Website zu ergänzen, reicht es.

Kurz nach der Nachricht: Unsere kleine Gruppe hatte sich vor dem Hotel verabredet, um zum Tagungsort, der Alten Aula der Universität Tübingen zu laufen. Dabei war die sympathische, intelligente ältere Dame, die zur Gruppe gehörte. Ich entspannte: Es versprach ein gemächliches Tempo des Gehens zu werden.

Welche Irrtum. Sie stürmte voran.

Und die mir namentlich unbekannte ältere Dame entpuppte sich als Friedespreis-des-Deutschen-Buchhandels und Bundesverdienstkreuz-mit-Stern-Trägerin, Mitglied der Leopoldina, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy Aleida Assmann. Hui. Immerhin kann ich sagen, ich mochte sie schon, bevor ich wusste, wer sie war.

Aber erstmal trete ich einen Schritt zurück.

Denn ich bin schon wieder in Berlin, der Blog aber noch Tübingen. Es waren anderthalb Tage des Tagens.

Der Anlass

Es war die Tagung Erinnern und Demokratie: Tag der Zeitzeug:innen 2025 des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung.

Im Nahbereich drehte sich die Tagung darum, welche Bedeutung Zeitzeug:innen für eine demokratische Geschichtsvermittlung besitzen. Insbesondere wurde dies an den beiden Zeitzeug:innen Projekten Generation 1975 und Generation Mauerbau diskutiert.

Im Nicht-ganz-so-nah-Bereich hörten wie eine Veranstaltung, die von sehr konkreten Ausarbeitungen für Schulstunden mit den Zeitzeug:innen reichte bis hin zu weit ausholenden Generaldiskussion des Stands der deutschen Einheit und des deutschen „Wir“s.

Der Grund des Anlasses

Madame war als Zeitzeugin geladen. Vor einigen Jahren kamen die Filmemacherin Ina Rommee und Stefan Krauss von KRRO Film in unsere Wohnung. Madame hatte sich eher zufällig gemeldet („Suchen Menschen mit Geburtsgjahr 1975, ausgewachsen in Berlin, Brandenburg oder Baden-Württemberg, die 14 waren als die Wende stattfand“) und das wissenschaftlich begleitete Auswahlverfahren (Repräsentative Auswahl verschiedener Bildungsniveaus, politischer Einstellungen etc.) gewonnen.

Seitdem macht sie die Runde als Zeitzeug:in, die bezeugen kann, dass das Baden-Württemberg des Jahres 1989 ziemlich weit entfernt von der Wende war – was im Kontrast zu den Berichten der Berliner und Brandenburger aus demselben Jahr deutlich mehr Sinn ergibt und eindrucksvoller ist, als ich vorher gedacht hätte.

Seit diesem Interview hat das Zeitzeug:innen-Projekt unerwartet Verbreitung gewonnen, ist immer noch sehr präsent. Immer mal wieder tritt Madame auf, um aus Sicht einer Betroffnen davon zu berichten und befragt zu werden. So auch hier.

Freundlicherweise durfte ich mitkommen. Das Partnerprogramm bestand auch aus der Teilnahme an der Tagung.

Der Rahmen

Ein Teil der Referent*innen und Veranstalter*innen hatten wir bereits am Abend vorher im Bavaria getroffen. Die eigentliche Tagung fand in der Alten Aula der Universität Tübingen statt.

Das Programm bestand aus Themen eher hart am Thema – eine empirische Studie zu Aura-Effekten1 beim Einsatz von Zeitzeug:innen oder konkreten Vorstellungen verschiedener Unterrichtseinheiten – und allgemeineren Themen zum Thema Demokratie – Deutschland – Historische Erinnerungen an die Wendezeit.

Abfolge und Flow der Veranstaltung sprangen überraschend perfekt zwischen den Ebenen. Am Abend von Tag 1 folgte der Film „Eine Sache der Deutschen“, der aus den bestehenden Interviews das Thema Wende noch einmal aus speziell migrantischer Sicht betrachtete.

Wir hatten Gelegenheit eine ganze Reihe Bildungsforscher*innen und Historiker*innen kennenzulernen2, Menschen von der Stiftung Aufarbeitung und Berliner Mauer sowie weitere eingeladenen Zeitzeug*innen aus dem Projekt Generation Mauerbau.

Highlight: Ibraimo Alberto, ehemals DDR-Vertragsarbeiter aus Mosambik, DDR-Nationalmannschaftsboxer und in jüngster Zeit Buchautor und seine mitreisende Frau, die wir zufällig in der Tübinger Innenstadt wiedertrafen als sie und wir beide nach einem Ort suchten, der einem in Tübingen nach 21 Uhr an einem Wochentag warmes Essen serviert. Wir verbrachten zusammen einen hochspannenden Abend im Neckarmüller.

Subjektive Auswahl

So viele intelligente Menschen sagten so viele intelligente Sachen. Es fällt mir schwer, eine Zusammenfassung zu finden.

Am auffallendsten Dirk Oschmann („Der Osten eine Erfindung des Westens“) als Troll vom Dienst, der den Zornes-Ossi mit akademischen Meriten gab. Er war gut darin, alle Anwesenden nach dem Mittagessen wieder aufzuwecken und sonst hat bewusst unterkomplex unterwegs.

Spannender: Die empirische Untersuchung zum Thema Zeitzeug*innen im Unterricht – in der durch viele Dutzend Schulklassen hindurch eine weitegehend identische Unterrichtseinheit3 einmal mit persönlich anwesenden Zeitzeug*innen gegeben wurde, einmal mit Videos von ihnen, und als Kontrolle eine ganz normale Unterrichtseinheit zum Thema gegeben wurde, und danach die Wirkung der Einheit empirisch überprüft wurde.

Anregend: die Vorträge von Monique Scheer und Aleida Assmann zum den großen Themen „Wer ist wir? Wie geht es demokratisch? Welche Form des Deutschseins brauchen wir?“ Scheer befürwortete das Salatschüssel-Modell der Nation, in der eine diverse Gruppe zusammenfindet, stellt aber fest: Wichtig ist nicht der Salat, sondern die Schüssel? Was hält sie zusammen?

Zur weiterem anregend: Anna Lux und ihr Ansatz Populärkultur (Romane, Musik) zur Wende zu untersuchen – die sehr viel vielschichtiger und differenzierter sind als es die übliche Geschichtsschreibung hergibt. Als Erinnerung für mich: Ihr Buch heißt Neon / Grau, ihr Projekt 89goesPop.

Lebenswege

Was auch spannend war: sowohl bei Madame wie auch bei mir wäre es möglich gewesen, dass wir an solchen Tagungen professionell teilnehmen; bei ihr aus geisteswissenschaftlicher Richtung, bei mir aus wissenschaftsnaher Politik/politiknaher Wissenschaft. Nur eins, zwei Abzweigungen im Leben anders gegangen, und wir beide hätte eine solche Konferenz im Auftrag der Arbeitgeberin besucht. Bei uns beiden kam es anders.

Und immer wenn wir in einem solchen Umfeld sind, denken wir ähnlich. Einen halben Tag lang „Hach, was wäre gewesen…“ und nach einem halben Tag des Zuhörens und Beobachtens kommen wir unabhängig voneinander zu der Erkenntnis „Gott sei Dank. Alles richtig gemacht.“

Anmerkungen

  1. Falsch vereinfacht: Schüler*innen sind so beeindruckt von der Zeitzeugin, dass Aufmerksamkeit und Engagment im Unterricht steigen – sie aber weniger lernen. ↩︎
  2. Zum Teil absurd, weil sich ein paar von Ihnen intensiv mit Madames Zeitzeuginneninterview auseinandergesetzt haben – mit dem Erfolg, dass sie sehr viel über Madame wissen, sie aber selbst ihr vollkommen unbekannt sind. ↩︎
  3. Soweit es halt mit verschiedenen Klassen und verschiedenen Lehrpersonen möglich ist. ↩︎

2 Gedanken zu „25-10-04 Von Wenderomanen und dem Wesen der Salatschüssel (Tübingen)“

  1. Glückwunsch! Und ausdrücklich Respekt.
    Was den Tag der Erinnerungen betrifft, war ich letzte Woche einigermaßen sprachlos, als eine Kollegin (im Westen und vor weniger als 35 Jahren geboren) meinte, sie wisse nicht, ob der Feiertag überall in D wäre. Sie sei so ein Kulturbanause und kümmere sich um sowas nicht. Tag frei fänd sie aber prima. Es gibt verschiedene Lebensblasen, scheint mir.

  2. Vielen Dank. Ich lernte ja auch: Schülerinnen und Schüler aus Baden-Württemberg beziehen ihr Wissen über Wende/DDR/Ostdeutschland vor allem vom Rapper Finch Asozial.

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