24-08-01 So sonnig war Suwałki (Vilnius-Warschau)

Der Körper ist zurück in Berlin. Die Seele aber kommt mit diesem Schnellzugtempo nicht hinterher. Die ist gerade erst mühsam mit LTG Link 23 / PKP Intercity 143 von Vilnius über Mockava nach Warschau gelangt. Eigentlich hängt die Seele noch weiter hinterher, möchte nicht mehr als Bummelzugtempo einlegen.

Also Stand, Warschau Ankunft Hotel: zwei Fernfähren, sieben Fernzüge, 2 Hopserfähren, 1 S-Bahn, 1 U-Bahn, 11 Trams (8 Helsinki, 3 Riga), zwei Diesel-Linienbusse (Travemünde, Helsinki), 2 Trolley-Linienbusse (Vilnius), zwei Shuttle-Busse.

Vilnius: Es kam anders.

Ka Kanalisation

Regenrinnen von Häusern in Vilnius laufen nicht in die Kanalisation, sondern das Regenrohr endet auf dem Bürgersteig. Auch war die Stadt sparsam mit Gullideckeln.

Das funktioniert. Denn Vilnius ist eine ausgesprochen hügelige Stadt: keine großen Anhöhen, aber jede Straße, jeder Weg hat Gefälle. Das Regenwasser kann in Bächen und Flüssen die Straßen hinabfließen, bis irgendwann ein Gulli oder ein echter Fluss kommt.

All‘ dies wäre uns nicht aufgefallen, hätten wir es nicht im Einsatz gesehen. Denn manchmal kommt es anders.

Unsere Reisewetterplanung lautete grob: Fähre, Helsinki, Tallinn, Riga liegen in oder an der Ostsee. Das wird vergleichsweise angenehm. Vilnius und Warschau liegen im Wald, mit Kontinentalklima kann das heiß und stickig werden.

Was passierte: Helsinki, Tallinn, Riga blieben unter 30 Grad, aber auch schwül mit gelegentlichen Unwettern. Und Vilnius. Ja, Vilnius.

Wir kamen gegen 18 Uhr am Bahnhof an, es war schon gräulich und recht windig. Später tranken wir in der Hotellobby an der Barception australischen Rotwein und Švyturys Extra, sahen Menschen zur Tür hereinkommen, die eher nass wirkten. Über Nacht sauste es und brauste es vor dem Fenster, es rüttelte und schüttelte.

Anscheinend war über Nacht ein Sturm herniedergegangen. Ein Sturm der Gerüste und Absperrungen bedrängt hatte, Äste von Bäumen abbrechen ließ und ganze Bäume umstürzte.

Gegen Morgen hatte es sich beruhigt, es blieb windig. Und es regnete und regnete. Eine Art Sturzregen; nur kenne ich Sturzregen als Ereignis, das einige Minuten, vielleicht auch eine knappe Stunde dauert. In meiner Welt ist Sturzregen nicht etwas, das Morgens beginnt und bis Spätabends andauert. In Vilnius war das anders.

Nach dem Frühstück schaute ich aus der Hoteltür und dachte spontan „Shelter in place.“

Den Tag über zeigte uns das Regenradar einen nahezu stationären Wirbel mit Zentrum über Smolensk. Eine wasserreiche Wirbelschleppe nahm Wasser auf der Ostsee auf und zog dann ebenfalls stationär herunter von Riga nach Vilnius. So viel Wasser.

Was blöd ist, wenn man nur 1 1/4 Tage Aufenthalt hat. Aber naja, dann retten wir uns in nächste Museum und verbringen dort einen schönen Montag.

Genau Montag.. Museum.. da war was. Der universelle Museumsschließtag gilt auch in Litauen. Plan B: In die Altstadt. Dort stehen jede Menge historische katholische Kirchen.. wir machen Kirchenhopping.

Bis wir in der ersten Kirche waren, hätte man unsere Kleidung auswringen können. Also im Schutz der jesuitischen Kasimirkirche Plan C – Madame identifizierte ein geöffnetes Museum: Die Ausstellung im Großfürstlichen Schloss.

Regenschirmständer

Im Schloss fiel auf: Im Eingangsbereich ist die schickste Regenschirmaufbewahrung, die ich je sah. Sie werden wissen warum.

Das Schloss an sich ist so etwas wie das Berliner Humboltdforum, nur noch viel bedeutungsaufgeladener.

Nie lernte ich in der Schule, dass Polen-Litauen vom Mittelalter über die Renaissance bis in die Frühe Neuzeit eine Großmacht war. Zeitweise reichte es von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, umfasste das heutige Baltikum, Polen, große Teile des heutigen Weissrusslands bis ins heutige Russland und der Ukraine. Insgesamt lebten dort 10 Millionen Einwohner*innen. Zentrum des Fürstentums war Krakau, wichtigstes Nebenzentrum Vilnius – und dort der Palast.

Der Palast wurde 1655 durch eine russische Invasion zerstört und 1801 nach endgültiger Eroberung Litauens durch Russland komplett abgetragen. Seit Ende der 1980er begannen archäoligische Arbeiten zum Palast, die bis 2018 zum kompletten Wiederaufbau führten.

Wie uns diverse Schautafeln versichtern, nach bester und umfassendster historischer Forschung so originalgetrau wie möglich, aber auch mit Freiheiten wo sinnvoll. Die erhaltenen Grundmauern wurde in Glas verpackt und sichtbar.

In den Palast kam eine Ausstellung zum Palast und zur litauischen Geschichte.

Und da muss irgendwas schief gegangen sein. Oder sie hatten ihre Kräfte erschöpft oder der Praktikant war dran, wir wissen es nicht.

Es sah alles schick und neu aus – war es ja auch. Aber ich kann mich nicht erinnern, je in einem Museum eine derart nicht-intuitive, verwirrende Wegeführung gesehen zu haben. Irgendwie gab es vier Routen, die aber eigentlich nur zwei waren, gerne in Absperrungen oder Sackgassen endeten und sich woanders fortsetzten. Warum man ein dezidiert barriefreudiges Wegekonzept mit Treppenstufen an passenden und unpassenden Stellen wählte? Wir fanden es nicht heraus.

Die eigentliche Ausstellung blieb unbeleckt von jeglicher Museumspädagigik. Vitrinen mit unerklärten Schaustücken. Daneben lange Texte zu den einzelnen litauischen Großfürsten und Bona Sforza, konsequent im Stil Wikipedia-Artikel geschrieben.

Egal, ab und an erhaschten wir Blicke in den Regen. Dann betrachteten wir doch noch eine Route mehr. Vermutlich hatte das Museum nur selten so intensiv betrachtende und ausdauernde Besucher*innen wie die versprengten Tourist*innen dieses Tages.

Danach Kaffee und Šaltibarščiai-Kalte Rote-Beete-Supper mit Kefir (Auswahl einfach: die Gastronomie mit der kürzesten Wegstrecke zum Palast) und dann der Heimweg. Endlich Trolleybus fahren! Wir stellten fest: Bleibt ein Trolleybus stecken, kommen die anderen nicht vorbei. Nach 300 Metern standen wir in einem Trolleybusstau unahnbarer Dauer. Also noch mal durch den Regen, lateral fahrende Trolleybusroute nehmen.

Der für Vilnius geplante Souvenir- und Mitbringselkauf fiel damit auch ins Wasser. Unsere Reisesouvenirs beschränken sich auf einen litauischen Regenschirm und zwei Packungen finnische Fischbouillon.

Dann RocknRoll-Hotel (sehr gemütlich, mit riesigen Zimmern, gutem Bett, angenehme Atmosphäre) – das abendliche Ausgehen führte nur zum Iki-Supermarkt direkt gegenüber des Hotels: Erdbeeren, Kefir, Kekse, Wurst.

Panzer auf Zug

Zwischen Frühstück und Abfahrt des Zuges gelang uns immerhin noch ein Kurzbummel schnellen Schrittes durch die getrocknete Altstadt. Wir beide sind entschlossen: Nächstes Jahr nach Litauen. Uns entging etwas.

Dann aber zum Bahnhof. Dort wartete mein neuer Lieblingszug, der Pesa 730M der Lietuvos geležinkeliai (LTG), der uns auch schon von Riga nach Vilnius befördert hatte. Er brachte uns wie üblich entspannt über Kaunas (da wollen wir auch noch hin) nach Mockava (ausgesprochen: Moskava, nicht Mokkava).

Dort wartete der Intercity der Polskie Koleje Państwowe (PKP) bereits am Nebengleis desselben Bahnsteigs. Passagiere beider Züge tauschten. Den polnischen IC kennen wir schon – wir hatten im Zweite-Klasse-Großraumwagen gebucht, problemlos, aber auch ein merkbarer Komforteinbruch gegenüber dem litauischen Zug.

Mir war bewusst, dass wir gerade durch die Suwałki-Lücke fahren, eines der „labilsten Gebiete der NATO“, da hier die Landbrücke zwischen Polen und Litauen nur 100 Kilometer breit ist, von Weissrussland und Kaliningrad in die Zange genommen wird.

Ich fragte mich, ob es aus Fenster Militär in der Landschaft zu sehen gäbe. Vermutlich fuhren wir gerade durch eine der am stärksten befestigten Regionen Europas (sans Ukraine..). In der Landschaft nicht. Aber am Bahnhof Mockava, und wenige Kilometer zuvor am Bahnhof Šeštokai standen Güterzüge mit Bundeswehr: LKWs, Kräne, Pionierfahrzeuge und Panzer. Offenbar die Litauenbrigade auf dem Weg zum Einsatzort.

Von Suwałki selbst sah ich mehr als gewünscht. Der Ort hat einen Miniaturkopfbahnhof. Die Lok musste etwa 20 Minuten von einem Ende des Zuges zum anderen Ende wechseln. Der Zug stand in praller Sonne, und da die Lok abweste, funktionierte auch keine Lüftung. #Fensterauf noch viel weniger, denn es war ja ein moderner Zug.

Während wir so durch Ostpolen Richtung Białystok zuckelten, noch eine Entdeckung: Augustów. Noch ein Bahnhof im Nichts, an dem aber jede Menge Menschen in Freizeit- und Wanderkleidung, mit Fahrrädern und anderen Sportgeräten den Zug bestiegen. Aus Wikipedia lernte ich: Ein Kurort in der Woiwodschaft Podlachien. Der Ort ist heute bekannt für Wassersportmöglichkeiten.

Ein polnischer Mitreisender erklärt noch, dass wir den Kulturpalast ignorieren sollen. Der ist Zeichen kommunistisch-russischer Besetzung. Viele Polen würden den Palast gerne los werden. Aber ein 237 Meter hohes Gebäude mit über 3000 Räumen lässt sich nicht so leicht abreißen. Leider ist er auch zu gut gebaut, um von selber zu verschwinden. Und so bleibt nur: Vorbeikucken.

Amkunft Warszawa Centralna um 20:10h. Aus dem letzten Warschau-Aufenthalt hatten wir gelernt: Unser Hotelsituation hat sich deutlichst verbessert.

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