Haltung besitzen Menschen, die in der Pariser Metro stehend zweihändig ein Hardcover lesen können, sich dementsprechend nirgends festhalten, aber auf der wilden Fahrt auch nicht einmal wackeln. Ein neues Lebensziel für mich.
Diese Zeilen entstehen an Tag anderthalb in Tübingen und ich schreibe über Paris. Wir reisen schneller als ich schreiben kann. Der Blog geht nach. Vielleicht gehe ich auch selber nach. Soviel Input.
Montag war ein Tag des Laufens in Paris.
Am Sonntag war noch der Weg der Weg und das Ziel das Ziel gewesen. Hätten wir uns direkt zu den Tres riches heures, dem Spectale du Pferd und der Hulten/Tinguely/de Saint Phalle-Ausstellung beamen können, hätten wir es ernstlich in Erwägung gezogen – allein um den Stress zu reduzieren.
Am Montag sollte es anders sein: Wir hatten ein paar Punkte auf der Route (Parc des Buttes-Chaumont / Parc Belleville / Rue Oberkampf / Bibliothèque nationale de France (Site François-Mitterrand)). Aber der Weg war mindestens genauso das Ziel. Paris-Bummel war angesagt. Er führte uns durch das 20., 19. und 11. Arrondissement, umfasste die Rue Belleville, den Boulevard Belleville, die Rue Oberkampf, den Boulevard du Temple und den Place de la République.
Lustigerweise hatten wir trotz arg verschiedener Herangehensweise an beiden Tagen ähnlich viele Schritte auf dem Handy. Aber ich werde am Beginn beginnen
7bis – Kasperltheater
Es war ein Teig der Steinbrüche.
Der Park von Buttes Chaumont wurde 1867 auf dem Gelände eines ehemaligen Steinbruchs angelegt.
Der Untergrund ist felsig. Allein der Weg mit der Metro bis zum Park ein kleines Abenteuer. Der Weg spannend, den die Metrolinie 7bis fährt – ich vermute aufgrund des Bodens – nur einspurig ausgeführt, fährt im kleinen Kreis bis zum Park. Wie ich lernte, wurde sie 1967 von der großen Linie 7 abgetrennt und seitdem offensichtlich museal genau im Zustand von 1967 bewahrt. Der Aufstieg von der Station in den Park geht hoch genug, dass ein Fahrstuhl der Standard-Transport weg ist.
Er weist für Paris beträchtliche Höhenunterschiede auf. Zentraler Punkt ist die Île du Belvédère, ein Einzelfelsen mit Aussichtstempel darauf. Um ihn herum der See, weitere Hügel, aufwendig gepflegte Blumenbeete, ein pittoreskes Kasperltheater (wegen Herbst geschlossen) und eine pittoreske Kinder-Schiffsschaukel alter Schule (also für zwei Personen, die schon selbst Schaukeln müssen).
Die große Kaskade wird gelegentlich angeschaltet, sie versorgt einen sich malerisch schlängelnden Felsen-„Wildbach“, der im See um die Île du Belvédère endet. Die kleine Kaskade läuft dauerhaft.
Im Park sind Pariser*innen, unterwegs, die Tai Chi betreiben, Hunde ausführen, Joggen, Picknicken – die Menschen fast so picturesque wie der Park selber. Und wenn in Paris die Revolution ausbricht, werden im Park immer noch schöne Menschen Tai Chi betreiben.
Flöten und Pinkeln
Buttes-Chaumont hatte starkes Die-zauberhafte-Welt-der-Amelie-Feeling. Menschen machen schöne Sachen in malerischer Umgebung. Nicht weit entfernt lag aber Belleville und der Parc Belleville.
Belleville war als wildes, urbanes, migrantisches Paris versprochen worden. Ich würde sagen, wenn man die Schöneberger Hauptstraße und die Neuköllner Sonnenallee kennt, gab es wenig Überraschungen. Aber der Park war schon anders als der Parc des Buttes-Chaumont. Der Parc Belleville wurde 1988 auf dem Hanggelände eines ehemaligen Steinbruchs angelegt – dementsprechend steil geht er bergab.
Er ist terrassiert, die einzelnen Terrassen immer nur wenige Meter breit, und überwiegend neben den Wegen dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsen. Abgesehen von einigen Aussichtspunkten (mit Blick auf den Eiffelturm) ist er also eher unübersichtlich.
Und so betraten wir den Park an einer engen Stelle, links und rechts lagen noch Privatgrundstücke, und der erste Parkbesucher, der uns begegnete, war ein Mann der an einem Baum pinkelte. Das war nicht mehr Amelie-Land.
Etwas weiter im Park, wir hatten mittlerweile verschiedene picknickende Studentinnengruppen passiert, fanden wir ein Bänkchen vor uns, aßen in Belleville gekaufte Pastilla-Pastetchen, und konnten beobachten, wir gut solche Hänge Klang transportieren. Wir hörten ein Doppelkonzert aus Ukulele (vermutlich eher oben am Hang) und Flöte (eher unten am Hang).
Einen Abstieg weiter am Vertikalspielplatz folgte ein schlafender Obdachloser, der seine spärliche Kleidung am Zaun zum Trocknen aufgehängt hatte.
Von Neukölln nach Prenzlberg
Die Rue Oberkampf bot mir zwei Attraktionen. Das älteste Schwimmbad von Paris, die Piscine Oberkampf und eine städtische Duschanstalt/Badeanstalt . Diese in Oberkampf war leider geschlossen, aber weitere scheinen weiterhin in Betrieb.
Vor allem aber war die Rue Oberkampf als Zentrum des Pariser Nachtlebens angepriesen. Und weil wir alt und langweilig sind, wollten wir dieses lieber am frühen Nachmittag inspizieren. Wir entdeckten zwei Zentren:
Ein Zentrum östlich der Avenue de la Republique – eine enge Straße, die schmalen Bürgersteige vollgestellt mit Kaffeeplätzen, alles im Zustand, der sagte „bitte gib mir frische Farbe“ – das Neukölln-Feeling aus Belleville blieb präsent.
Nach der Rue weiter im Westen waren wir plötzlich in einer Fußgängerzone im Prenzlauer Berg angelegt – reichlich Platz, die lokale dreimal so teuer, schicken Läden und Bäckereien, die unsere Großeltern schon nicht mehr als solche erkennen würden.
Zum Abschluss der Rue tranken wir sehr teuren sehr guten Kaffee („inspiriert aus Kyoto“) und entdeckten Rougier&Pie. Der Laden, der ungefähr so eine normale Papeterie/Bastelgeschäft ist wie der Eiffelturm ein normaler Aussichstturm ist.
Es gelang uns erfreulicherweise nicht das komplette Reisebudget dort auszugeben, nach harter Schlacht zogen wir nur mit einer handvoll französischer Schulhefte (die guten Großen mit den tollen Karos) und einem Notizbuch von dannen.
Es folgte die Metro, mal wieder über Chatelet, in den Süden.
Collette non
Die letzte Etappe brachte uns aus dem Nordosten der Stadt auf die falsche Seite der Seine. Die Bibliothèque nationale de France (Site François-Mitterrand) liegt zwar fast direkt am Fluss, aber am falschen Ufer. Und so bemühten wir die Metro genau der Devise „Alle Wege führen nach Châtelet“ und wieder hatten wir einen lustigen Wandertag durch die verschiedenen Bereiche der Station.
An der BNF angekommen, waren wir in einem komplett neuen Stadtviertel: Anscheinend um 1990/2000 komplett neu gebaut, viele Hochhäuser, viele Büros, so ein wenig Potsdamer-Platz-Vibes-in-gepflegter.
Die BNF selber: Ein Prunkbau irgendwo zwischen Brutalismus und Postmoderne – wir beiden mussten spontan an das Londoner Barbican Centre denken.
Wir den Collette-Ausstellungsbesuch waren wir beide zu erschöpft. Aber wir merkten uns immerhin: ab 17 Uhr ist der Eintritt frei. Das zur Bibliothek gehörige Kino führt aktuelle Filme in der Originalversion auf. Und der Eintritt auf die schicke Aussichtsterrasse mit den schicken Luxembourg-Liegestühlen und den Blick auf den Wald im Innenhof ist ganztägig möglich.
Lauter Gründe zum Wiederkehren.

Letzte Erforschung: Paris hat eine Straßenbahn. Madame entdeckte diese zufällig, als ihr die Navigo-App eine Straßenbahnfahrkarte zum Kauf anbot.
Wir suchten sie auf dem Netzplan, fanden sie schließlich. Die Linien 3a und 3b führen als Dreiviertelring einmal weit um die Pariser Innenstadt und ein Zweig kam bei uns vorbei. Wir ließen uns in ganz unbekannte Gegenden bringen, südlich der Seine, noch ein ganzes Stück südlich des Quartiert Latin bis zum Gelände um die Université Paris Cité. Auch spannend.
Aber nicht mehr für uns. Nicht an diesem Tag.