Blick vom Turm der Jakobikirche. Im Vordergrund Kirchendach mit Laterne, im Hintergrund Hafen und Altstadt. Wilde Wolken am Himmel.

24-05-21 Chop chop szczeciński (Toccata und Fuge)

Madame wollte vom Topfpflanzenmarkt Päonien mitbringen. Bis wir allerdings beim Markt waren, war der Päonienstand verschwunden. Stattdessen: Buchweizenhonig.

Ein Kellner wollte sagen, dass ein bestimmter Bereich des Restaurants nicht bedient wird: „This area is out of order.“

Montag (Feiertag in Deutschland, nicht in Polen). Wir hatten uns vor dem Gewitter in einen Pavillon der Hakenterrasse geflüchtet. Von dort schauten wir Milchkaffee trinkend auf die Nawigator XXI, das Schulschiff der Politechnika Morska (Fachhochschule des Meeres).

Plötzlich sammelten sich 30 kleine Menschen (aus der Entfernung) mit Köffern in Matrosenanzug, die das Schiff bestiegen. Es ging auf große Schulfahrt!

Irgendwie war ich auf der falschen Uni. Die Unis Leipzig und Hamburg boten keine Sea-going programs an.

Hotelentdeckung: Eine Glaskaraffe im Zimmer und ein Wassersprudelspender auf dem Gang statt Flaschenwasser. Bitte mehr davon.

Die Stadtgeographie Stettins blieb weiter spannend. Stettin ist wie jede von uns bereiste polnische Großstadt eine moderne, weltgewandte, energetische Stadt. „Wir wollen Zukunft“ strömen die Menschen aus.

Nur ihr geograophisches und historisches Zentrum, die Altstadt ist eine eigentümlich leblose Energiefalle. Es gibt ein Hotel, einige Restaurants mit touristischer Ausrichtung und viele Wohnhäusern deren Bewohner*innen lieber nicht rausgehen.

Für Touristen zur Erstorientierung durchaus verstörend; für Entdeckernaturen aber spannend.

Die Wikipedia beschreibt es als:

Nach 1945 übernahm die gründerzeitliche Neustadt mit ihrer überwiegend gut erhaltenen Blockrandbebauung anstelle der fast völlig zerstörten Altstadt die meisten Zentrumsfunktionen. Ein dominierender Stadtmittelpunkt ist in der Neustadt nicht erkennbar.

Deckschrubben, Matrose

Neben der diversen Zentren der Neustadt versucht die Stadt ein weiteres Zentrum zu etablieren: den Innenstadthafen. Was London, Rotterdam, Hamburg und Danzig schon konnten, kann Stettin schließlich auch. Nicht-mehr-benötigtes-Hafengelände zu Hipsterinnenstadt. Wichtiges Bauwerk dabei: das vor einem Jahr im Mai 2023 eröffnete nautische Meeresmuseum (Morskie Centrum Nauki).

In prominenter Lage, auf der noch „falschen“ Oderseite, in einem Gebäude, das aussieht wie ein großes Schiff. Das Museumszentrum erstreckt sich über mehrere Stockwerke. Es ist ein Mittmachzentrum. Jede Station weist einen Erklärteil auf und einen „mach selber etwas.“

Die Stationen sind verschieden: Mal ist es eine Rudermaschine, mal ein kleines Segelboot mit Windmaschine auf dem man „gegen den Wind“ segeln kann, mal Morsegeräte.

Es gibt aber auch Aufgaben wie „Deck schrubben“, den Vergleich zwischen Bett/Hängematte auf einem schaukelnden Schiff und Physik-Simulatoren (eindrucksvoll: wie viel stabiler liegt ein Katamaran im Wasser als ein Standardsegelboot).

Wer es bis in den dritten Stock schafft, darf sich als Matros*in bzw. Kapitän*in verkleiden.

Ein großer Spaß das Zentrum.

Kathedralenfahrstuhl

Um weitere Stadtzentren zu finden folgten wir dem roten Faden, einer Stadttour, die ganz wortwörtlich als sieben Kilometer langer roter Strich auf die Bürgersteige gemalt ist

Durch die Uptown-Downtown-Aufteilung der Stadt in ein „unten“ auf Meeresspiegel (Altstadt, Hafen) und ein „oben“ (Neustadt, Modernes Stettin) ergibt sich die natürliche 1A-Lage Stettins: Direkt am Hang – oben mit Blick nach unten. Dort liegen alle Regierungsgebäude seit dem Schloss der Pommerschen Herzöge aber auch die Hauptkirche, die Jakobikirche/-kathedrale. .

Das backsteingothische Gebäude weist im Wesentlichen das Baujahr 1971 auf. Die Zerstörungen der Stettiner Innenstadt ließen selbst von so einem imposanten Kirche wenig übrig. Die katholische Kirche baute das einst evangelische Gotteshaus nach.

Im Innern fällt das Baujahr zum Beispiel dadurch auf, wie gleichmäßig die industriell gefertigten Backsteine sind. Noch auffallender: der Personenfahrstuhl im Kirchturm, der auf eine echte verglaste Aussichtsplattform führt. Das fühlt sich mehr nach Fernsehturm Berlin als nach gotischer Kathedrale an.

Blick vom Turm der Jakobikirche. Im Vordergrund Kirchendach mit Laterne, im Hintergrund Hafen und Altstadt. Wilde Wolken am Himmel.
Blick vom Kirchturm auf Altstadt, Palast der Pommerschen Herzöge (weiß), Hafen und im Hintergrund der Dammsche See.

Eindeutig kathedral war aber das Orgelkonzert. Etwas gleichzeitig mit uns betrat eine polnische Schulklasse das Gebäude. Die bekamen eine kurze Einführung zur Kirche, direkt danach eine Orgeldemonstration. Von den höchsten Pfeifen zu den tiefsten Tönen; verschiedenen Soundeffekte. Und am Ende ein kleines Konzert der Orgelklassiker mit Ave Maria, the Prince of Denmark’s March und die Toccata und Fuge d-Moll BWV 565.

Wie Kirchenorgeln funktionieren: wenn eine Gruppe die Orgel hört, hören sie alle. Wir durften überraschend und ungeplant dem Konzert lauschen. Juhu!

Sozialistischer Dosenfisch zu Stadtspezialität

Bestes Essen: die Deska Szczecińska, die Stettiner Fischplatte in einem Brauereirestaurant. Sie bestand aus frittierten Sardinen, einem Hüttenkäse-Makrelen-Aufstrich (überhaupt Makrelen: Große Thema in der Stadt), Hering und der lokalen Spezialität hausgemachter Paprykarz szczeciński.

Die mag ich: Fisch, Reis, Tomatenmark, Zwiebeln und viele (scharfe) Gewürze trifft all meine Essensfreuden. Auch mag ich die Entstehungsgeschichte des Gerichts:

Es waren die 1960er. Kommunistische Arbeiter sollten satt werden. Kommunistischen Staaten schickten ihre Fischfangflotten in die weite Welt, um Essen heran zu schiffen, das zu Konservenfisch wurde.

Es entsteht bei der Umwandlung von ganzem frischen Fisch in filettierten Konservenfisch Verschnitt. Ein Direktor der Konservenfabrik Greif in Stettin suchte eine Möglichkeit, seinen Arbeitern auch Fischverschnittkonserven schmackhaft zu machen.

Da die polnische Fischereiflotte zu dieser Zeit vor allem vor Westafrika fischte, entdeckte er angeblich ein westafrikanisches Rezept Chop Chop – das aus Zutaten nachgebaut wurde, die im Stettin der 1960er verlässlich vorhanden waren.

An dieser Geschichte mag ich alles: Sie erfindet keine ewige Tradition; sie ist offen damit, dass sie auf Imitation und Adaption beruht; prosaischer als „Konserve für Reste“ kann ein Ursprung nicht sein. Ich mag, dass sich das Gericht von der billigen Konserve zur hausgemachten Spezialität teurer Restaurants entwickelte. Und als i-Tüpfelchen kennt mein Internet kein afrikanisches Gericht namens Chop chop.