25-01-19 Grundschöttel! (Hagen)

Nena kommt aus Hagen. Nina Hagen hingegen kommt aus Berlin.

Ich bin körperlich wieder in Berlin, gedanklich aber noch in Hagen.

Am Bahnhof Hagen fuhr ICE 859 nahezu pünktlich mit angekündigten Wagen in der angekündigten Reihenfolge ein. Vorher genoss ich das Spektakel der An- und Abreisenden in der Hagener Bahnhofshalle.

Davor gab es Znüni im Café Vicenzo.

Denn Café Vicenzo löste mein samstagliches Zeitproblem. Das Zimmer musste ich bis spätestens um 10 Uhr verlassen, den Zug durfte ich frühestens um 12:30h besteigen. Reisezeit vom Zimmer zum Zug: Eine gute halbe Stunde.

Also dachte ich, ich fahre erstmal in die Stadt. Dann steige ich an einem Punkt aus, von dem aus selbst ich zu Fuß den Bahnhof finde. Und dann wird es wohl eine Bäckerei geben, in der ich noch Kaffee und ein zweites Frühstück bekomme und etwas Zeit verbringen kann.

Ich fuhr bis zum Theaterplatz. Dort gab es keine Bäckerei, aber etwas viel Besseres: Café Vicenzo. Rein äußerlich eine Mischung aus Italianita, Shabby Chic und Hagen-Style. Am Tresen hing ein Poster, dass Vicenzo selbst ein Konzert zum 20jährigen Café-Jubiläum geben wird.

Auf der Karte die üblichen Kaffeespezialitäten und eine kleine Frühstückskarte mit Brötchen und Rührei. Das Café gut gefüllt, anscheinend fast alles Stammgäste. Ich fiel mit großem Koffer sofort auf – und wurde ausnehmend herzlich behandelt. Nach etwa einer Dreiviertelstunde Aufenthalt hatte ich den Eindruck, selber kurz vorm Einzug in die Stammgastkategorie zu sein.

Aber leider – so schön wie es alles war – baldige Rückkehr nach Hagen ist für mich nicht zu erwarten.

Aufgewachsen im Schatten der Müllverbrennungsanlage Krefeld

Aber bevor ich aus Hagen aufbrach, galt es dort Donnerstag und Freitag zu verbringen.

Der Rest der Woche begann mit dem Seminar. Ich war ja durch, konnte also unbeschwert zuhören. Es gab drei Themenblöcke:

(a) Eher abstrakt zum Thema Postoptimalitätsanalyse in der Linearen Programmierung. In diesem Block war ich mit meinem Vortrag gelandet. Grob gesagt geht es dabei um eine Problemstellung, der der ich etwas maximieren (Ertrag) oder minimieren (Abfall, Co2, Kosten) möchte – unter bestimmten Rahmenbedingungen.

Um ein Beispiel zu bringen: Ich möchte C02 mininierem, muss aber innerhalb eines Tages drei Wölfe, eine Tonne Salat und eine Schafherde über den Fluss bringen. Dafür stehen mir verschiedene Transportmittel zur Verfügung mit jeweils eigener CO2-Erzeugung und Transportkapazitäten. Was ist die optimale Mischung an Transportmitteln?

Dabei bestimmte ich im ersten Schritt mathematisch eine optimale Lösung. Im zweiten Schritt kann ich aus dem Ergebnis der Berechnung diverses Anderes ablesen – um die Frage nach dem „Anderen“ dreht sich die Analyse nach (post) Bestimmung der optimalen Lösung; also die Postoptimalitätsanalyse.

(b) Block 2: Effizienmesseung bei Banken. Hier lag die Herausforderung darin, dass es bei Banken gar nicht so einfach ist zu sagen, was relevanter Input und was relevanter Output ist. Einzelne Werte (zB Menge der vergebenen Kredite) wird mal als Input und mal als Output gewertet,

(c) Block 3: Multikriterielle Entscheidungsprobleme am Beispiel Abfallswirtschaft.

Wir müssen eine Entscheidung treffen- zum Beispiel über die Anschaffung von Müllwagen, Standorte von Abfallverbrennungsanlagen, Auswahl der Müllbehandlungsmethode. Dafür gibt es verschiedene Ziele und Kriterien (ökonomisch, ökologisch, sozial). Die Ziele widersprechen sich in Teilen und funktionieren in verschiedenen „Einheiten“. Es lässt sich also nicht einfach drei Geld minus vier Sozialeinheiten rechnen. Wie formuliere ich dennoch ein abstraktes mathematisches Modell für solche Themen?

Die Teilnehmer*innen waren überwiegend Ingenieure und BWLer – beides keine Gruppen, die für ihre unkonventielle Herzlichkeit bekannt sind. Ich glaube, es war die erste Uni-Veranstaltung meines Lebens bei der sich auch die Studierenden untereinander siezten.

Aber im Laufe der Tage lockerten sie auf.

Irgendwann zeigte sich auch, dass wir am Lehrstuhl Wirtschaftsmathematik unterwegs waren und nicht etwa bei Marketing oder Controlling. Irgendwann schimmerte unter den weißen und karierten Hemden und den Kostümchen doch deutlich das Nerdtum hervor. Und da wurde es auch menschlich spannend.

Aber ich hatte mir nach dem Seminar noch etwas Zeit für die Stadt und Sightseeing gegönnt.

Besuchen sie unser gemütliches Wohnzimmercafé mit dem Flughafenabsperrband

Links! Welch Idee!

Nach Verlassen der Bildungsherberge wendete ich mich automatisch immer nach rechts (Nordost), denn dort liegen Uni, Edeka und der Umstieg zum Westfalenbad. Nun empfahl Thomas in den Kommentaren:

Wenn du die Eppenhauser Straße stadteinwärts gehst (von der Herberge aus Feithstraße nach links und dann an der Aral-Tankstelle rechts)..

Potzblitz! Ich kann ja einfach mal vom Grundstück kommen und dann nach links laufen! Er hat recht. Und so lief ich links, dann an der Araltankstelle rechts und dann die Eppenhauser Straße hinunter.

Ein wenig fühlte ich mich wie in New York. Ehrlicherweise lag es vermutlich weniger an Hagen – mehr daran, dass mein letzter Gang alleine eine unbekannte lange Straße entlang Richtung Stadtzentrum 2015 entlang des Broadways verlief.

Auf dem Weg in die Stadt passierte ich den „Schwedischen Kiosk“ und „Golden Dog Beauty“. Dort schaute mich der Golden Dog, ein Labrador mit großen Augen, hingebungsvoll direkt durch das Schaufenster an, so dass alle bösen Gedanken an überschminkte Kampfhundausführerinnen sofort von mir wichen.

Ich lief weiter in die Stadt, staunte über die vielen authentisch aussehenden italienischen Eiscafés und das Café de Paris – landete aber im Colazione. Einem Café inmitten eines halbleeren Einkaufszentrums, das versuchte Gemütlichkeit mittels Polstermöbeln herzustellen.

Es hätte allerdings geholfen, wenn diese Möbel alt. luxuriös und shabby gewesen wären, nicht offensichtich brandneu und preiswert. Auch die Lage inmiten der großen Einkaufszentrumshalle, von dieser getrennt durch Flughafenabsperrbänder, half nicht.

Ach, Hagen, Du unvollendete. Wie wirst du mir immer sympathischer. Ich nahm einen Kaffee und begann im Wikipedia-Artikel zur Stadt zu schmöckern.

Der Wikipedia-Eintrag zu Hagen bot manchmal wenig überraschendes:

Das Risiko, beim Radfahren in Hagen zu verunglücken ist gegenüber dem Bundesdurchschnitt um den Faktor 10 erhöht.[35] Hagen belegt in Fahrradklima-Tests des ADFC[36] regelmäßig den letzten Platz unter allen deutschen Großstädten, so zuletzt 2020.[37]

Er bot Fakten, die inhaltlich nicht überraschten, aber doch in ihrer Form:

Die größten Steigungen (mit mindestens 20 %) innerhalb des Hagener Stadtgebiets:

  • Treppenstraße in Altenhagen mit 28 %
  • Böhmerstraße in der Stadtmitte mit 27 %
  • Ewaldstraße in Wehringhausen mit 27 %
  • Rehstraße in Wehringhausen mit 26 %
  • Tunnelstraße in Wehringhausen mit 26 %

und er bot gänzlich Überraschendes:

Im Jahr 2017 wurde Hagen in die 27. Auflage des Duden aufgenommen.

Weitere Wege führten mich zur Buchhandlung am Rathaus. Auch die wäre eine Abschweifung wert, die später kommen wird. Wie so oft in der Stadt das Erlebnis: Meine Güte, sind die alle herzlich hier. Noch ein Laden, bei dem ich nach 20 Minuten das Gefühl hatte, schon halb zur Stammkundschaft zu gehören.

Hohenlimburg via Donnerkuhle

Bei meiner Planung der restlichen freien Zeit hatte ich ein Problem. Einerseits dachte ich, ich habe noch so wenig von Hagen gesehen; gerne würde ich in der Stadt bleiben. Andererseits wollte ich natürlich auch das Deutschlandticket ausfahren. Im ÖPNV lernt man viel über eine Gegend.

Ich studierte den Netzplan mit dem Wasserlosen Tal, dem Felsental, Wetter und Witten und stolperte über einen Eintrag: Grundschöttel.

Auch eine Gemeinde? Oder einfach ein Ausruf des Kartographen? „Grundschöttel aber auch! Was hier wieder ist!“

Eine Lösung meines Problems allerdings brachte nicht der Plan, sondern Wikipedia:

Diese informierte mich, dass Hohenlimburg 1975 nach Hagen eingemeindet wurde. Kurz darauf sah ich einen Bus mit Ziel „Hohenlimburg Bf.“ und dachte Heureka! Mein Problem ist gelöst, wie ich gleichzeitig in Hagen bleiben und doch durch die Gegend fahren kann.

Ich suchte den nächsten 522er Bus, fuhr vom Rathaus Hagen nach „Hohenlimburg Mitte.“ Wie zu erwarten führte die Strecke über einen Berg und verlief entlang eines Waldes. Der Bus hielt in Heidnocken, Hünenpforte, Totenhofweg und Donnerkuhle. Selbst eine große Farbrikanlage fand sich an der Strecke: „Bilstein – ein Name im Kaltband!“

Nur als ich in Hohemlimburg ausstieg, entfuhr mir ein „Grundschöttel! Was ist denn hier passiert?“

Nach einigen Metern Fußweg entdeckte ich, dass mich der Bus an der schlimmsten Ecke von Hohemlimburg-Zentrum vor die Tür gesetzt hatte. Immerhin gab es fünfzehn Meter weiter um die Ecke eine funktionsfähige Trinkhalle.

Weiter hinein ins Zentrum: Ein kleiner sympathischer Wochenmark und eine „gemeinnützig geführte“ Buchhandlung. Die Fußgängerzone mit ihren geschwenkten Gäßchen, dem leichten auf- und ab und den alten Häusern, hätte Märklin-Modellanlagenpontenzial.

Aber hier herrschte nicht das pralle Leben, sondern ein Leerstand, der schon nicht mehr erschreckend war. Wenn ich im Zentrum der Fußgängerzone durch eine Schaufensterscheibe sehe, und im Inneren des Ladens liegt Schutt; an der Wand im Innenraum ist ein großer gezeichneter Penis und daneben steht „Gangbang.“ So richtig aufmunternd wirkt das nicht.

Nach meiner Runde also zum Hohenlimburger Bahnhofsrewe, Vorräte aufstocken, und im Nebel zurück zur Herberge. Das Westfalenbad wartete erneut. Aber dazu später mehr.

Merken: Desmos

Gelernt: Desmos ist ein schikes Onlinetool, um Graphen und ähnliches darzustellen.

Rein äußerlich war ich extrem begeistert vom Gebäude der Tanzschüle Siebenhühner. The sixties are alive and swinging.

Ein Gedanke zu „25-01-19 Grundschöttel! (Hagen)“

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