WIr sind in Vilnius im Rock’n’Roll-Hotel angekommen. Inzwischen fühlt es sich deutlich mehr nach Polen als nach Finnland an. Aber dazu ein andernmal mehr.
Um hierhin zu gelangen nutzten wir elf Trams (acht in Helsinki, drei in Riga) sowie den fünften Zug (LTG Link 891 Riga -> Vilnius). Der einzige Zug der Reise, der an der Grenze einfach so ohne Umstieg durchfährt.
DJ Krankenwagen
Nach Puppenstubentown Tallinn erreichten wir wieder einen Ort, der sich nach Millionenstadt anfühlt: Hallo Riga. Wir werden osteuropäischer: Es gibt keine Sauna mehr aber weißen Kaffee.
Die Sprache bleibt uns hermetisch verschlossen. Die Buchstaben erinnern aber mehr ans Polnische oder Tschechische als ans Finnische.
Der Weg vom Bahnhof zum Hotel erwies sich mit schweren Reiseköffern als überrsachend anspruchsvoll. Zwischen uns und das Hotel hatten die Stadtplaner eine sozialistisch-autogerechte Kreuzung gelegt. Viele Spuren und noch mehr Sperrgitter, damit kein Mensch sie ebenerdig überquert. Stattdessen: eine Unterführung.
Diese hat die selben niedlich-historischen Miniaturfahrstühle, die wir schon aus Warschau kennen – nur haben sie in Warschau zumindest funktioniert. Also Koffer-über-die-Treppen gewuchtet; danach an ein paar Baustellen vorbei und zum Hotel. Dann: Abenteuer.
Nach Besuch der Markthalle (und staunen wie sehr das Angebot in Riga an die Märkte in Jersusalem erinnert) widmeten wir uns einer üblichen Methode der Stadterkundung: Man setze sich in eine Tram und fahre bis zur Endstation. Dann bis zur anderen Endstation.
Danach haben wir einen vagen Eindruck von Stadt außerhalb des Zentrums. Erfolgreich handelte Madame dass lettisch-russischsprachigen Kioskdame zwei E-Talons für 24 Stunden ab und wir stiegen in die Tram Nummer 5.
Runde eins: Über die Düna, an der Nationalbibliothek vorbei, entlang von Parks, mehrstöckige Villen in Holzbauweise, alles sehr schick. Dann zurück: Innenstadt passiert, es ging Richtung Hafen.
Dann folgte eine erschreckend lange Fahrt durch erschreckend verfallene Industriegebiete: Falls jemand von Euch einen Mafiafilm drehen möchte, und einen unheimlichen Drehort für große Waffen-Drogen-Leichenlager sucht: ich wüsste ein paar Gebiete in Riga.
Dann wurde es plötzlich wieder parkartiger und sehr nett.
Auf dem Rückweg: Ausstieg am Nationaltheater. Weitere Parks, das Welterbe-Jugenstilviertel durchschlendern. Wer in Berlin-Friedenau wohnt, kennt ja das ein oder andere hochherrschaftliche Bürgerhaus der Jahrhundertwende – dennoch, ein Augenschmaus.
Obwohl wir auf Ostseeluft gehofft hatten, war es schwül und anstrengend. Also wieder Park. Auf dem Park dorthin Aufkleber für eine Party mit medizinischem Thema und DJ Krankenwagen. Madame erzählte von tausenden ausländischen Medizinstudent*innen, die in Riga Medizin auf englisch studieren und dann in ihre Heimatländer zurückkehren.
Kaum hatte sie ausgesprochen ging ein Pärchen Ende 20 an uns vorbei. Er erzählte auf deutsch etwas von Analysen und dass dann die ganze Haut entfernt werden muss. Wir blieben sitzen. Kurze Zeit darauf prügelten sich zwei betrunkene Spanierinnen.
Angeln
Erstaunlich auf unserer Fahrt: die Tram fuhr am Trolley- (Oberletungs-)busdepot vorbei. Der Himmel über dem Depot: ein Meer von Kabeln. Dass es in diesem Depot keinen Kurzschluss gibt, muss mit Magie zugehen.
Riga (wie Tallinn, Vilnius) betreiben noch eine große Trolleybusflotte. Ich saß ja noch nie in einem solchen, verpasste es dort und hoffte auf Vilnius.
Aber ich stellte fest: ich fuhr Trolleytram. Wir kamen an einer Kreuzung vorbei. Drei Trams standen sich Aug in Aug gegenüber. Diverse Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht waren vor Ort. Die Rettung kam mit einem Hubwagen, der sich zu den Oberleitungen emporfahren ließ.
Dann eine Dame, die aus der Tram stieg mit einem langen angelartigen Gebilde. Und erst dort fiel uns auf: die alten Trams haben gar keine Bügel am Strom – so wie normale Straßenbahnen. Sondern sie sind, trolleybusartig, in die Leitung eingehängt. Die Leitung bestimmt den Weg. Geht dort etwas schief, muss die Tramführung herausschreiten, Kabel angeln und manuell umhängen. Und geht selbst das schief, kommt der Hubwagen mit Blaulicht und es wird von Hand sortiert.
Battle of the Bands
Das Old Rixwell Palace Hotel in Riga verkaufte sich zwei Klassen über dem Go Shnell in Tallinn. Prompt bekamen wir etwas geboten, dass es seit der Fähre nicht mehr gab: Einen scheinbar schwerhörigen älteren deutschen Mann, der in lautem Monolog den kompletten Frühstücksraum beschallte. Dieser sprach über Fußball.
In einem anderen Leben war Madame schon einmal in Riga. Mit etwas Mühe fand sie ihr damaliges Hotel wieder: Geschlossen. Wie so vieles in der Stadt. Wir vermuten: Der Verlust russischer Tourist*innen schmerzt die Stadt.
Das können auch britisch-dänisch-finnische-Jungesell*innen-Abschiede nicht ausgleichen. Nicht einmal die wild gröhlende deutsche Mannschaft auf dem einen Bierbike der Stadt.
Riga, die Stadt der vielen Seiten. Abends war der Eindruck: wie Prag, aber mit Ostseestrand in der Nähe. Malerische Altstadt, Dutzende (Hunderte?) Kneipen und Restaurants für Touris, jede dritte Bar beschäftigt am Wochenende eine Band. Dabei geräumig genug, um sich nicht komplett eingesperrt zu fühlen.
Wir gingen vom Hotel aus um die Ecke, aßen Kartoffelpuffer und Zeppeline. Dann mit Buch auf eine Bank, Brunnen und Blumendeko bestaunen und einer guten Coverband lauschen.
Portal
Drei Eisenbahnen, drei Stile.
Tallinn/Estland: Der Wikipedia entnahm ich, dass Estland vor einigen Jahren arg mit einer Eisenbahnprivatisierung scheiterte und damals beinah die komplette Bahn verloren hätte. Ein vermutliches Nachwehen zeigte sich am Hauptbahnhof Tallinn: der komplette Bahnhof beherbergt einen Supermarkt. Er wurde so entbahnhoft, dass der Supermarkt nicht einmal mehr einen Ein-/Ausgang Richtung Gleise hat, sondern nur Richtung Innenstadt öffnet. Die Züge modern und superbequem. Aber so klein. Das ist Stil Prignitz-Express und nicht Stil Fernzug.
Lettland: Offenbar hat Kommando Lötkolben die lettische Staatsbahn übernommen und hält nun mit einem Schweißgerät, viel Gaffatape und noch mehr Farbe das sowjetische Bahnsystem am Leben. Selbst bei den Preise: Soweit ich sehen konnte, kostet die teuerste Fahrkarte in ganz Lettland 8,50 Euro. Das hat einen ganz anderen Maßstab als in Estland, wirkt aber durchgehend wie eine auseinanderfallende Museumsbahn.
Litauen: Alte Züge, neue Züge, große Bahnhöfe, kleine Bahnhöfe, kurze Züge, lange Züge. Es wirkt wie eine echte Eisenbahn. Mich wundert es nicht, dass ausgerechnet die Lietuvos geležinkeliai (LTG), die litauische Eisenbahn, einen neuen Zug zwischen Riga und Vilnius anbietet. Angespriesen im Bahnhof Riga mit The Train you’ve been waiting for. Dieser fuhr uns reichlich unspannend durch die Lande. Erwartungsgemäß kamen wir an einem Gebäude an, dass ich als recht modernen Bahnhof erkennen würde.